Auf den Spuren von #2 Egon Schiele und Judit Flamich

20.04.2023
Judit Flamich

„Schiele, die Landschaftsmalerei und ich“ - Die Künstlerin Judit Flamich untersucht ein Genre des österreichischen Künstlers Egon Schiele, für welches er wohl weniger bekannt ist und ergründet dabei, wie diese ihre eigene Landschaftsmalerei inspirieren. 

Rudolf Leopold war beruflich Augenarzt und ein leidenschaftlicher Sammler von Egon Schieles Gemälden. Er jagte fast manisch nach Schieles Werken, unabhängig davon, ob sie Landschaften oder Menschen darstellten. Leopold baute dadurch noch zu den Lebzeiten des Künstlers eine enorme Kollektion auf. Heute ist die Sammlung im Wiener Leopold Museum als Dauerausstellung zu sehen. Bei einem Besuch in der Dauerausstellung „um 1900“ ist mir eine gewisse Spaltung der Werke nach Genre und nach Bekanntheitsgrad aufgefallen, die mich zum Nachdenken angeregte. 

Egon Schiele wird in erster Linie mit seinen expressiven, für die damalige Zeit äußerst provokativen, dennoch hochmodernen Aktzeichnungen assoziiert und dadurch als einer der ersten Vertreter des österreichischen Expressionismus bezeichnet. Er wird als ein Genie gedeutet, der seine psychologischen und sexuellen Begierden mittels eruptiven und extremen Gestikulierens in seine Kunst transkribiert. 

Sein Oeuvre beinhaltet jedoch eine überraschend große Anzahl an Landschaftsbildern für einen Künstler, der sich hauptsächlich mit der Wahrnehmung des menschlichen Körpers beschäftigte. Bei Schiele schmelzen diese zwei Genres auf eine subtile Art und Weise ineinander, in dem seine Landschaften meist eine harmonische Mischung aus einem österreichischen Naturblick und Bäumen mit anthropomorphisierendem Charakter aufweisen. In Schieles Landschaften ist eine absolute Abwesenheit von Menschenfiguren zu erkennen, da das Humane durch die allegorische Deutung der Vegetation vertreten wird. Schiele setzt vor allem Bäume mit dem Menschen und seinen innerlichen Aufruhr über Vereinsamung, Hilflosigkeit und Existenzgefährdung gleich. 

Schiele begann seine Kunstkarriere mit naturalistischen, dann impressionistisch geprägten Malereien, die noch als reine Abbildung seiner wahrgenommenen Umgebung fungierten. 1909 erreicht der junge Künstler einen Wendepunkt mit seinem Gemälde „Sonnenblume II.“ (Bild 1) als eine erste anthropomorphisierende Gestaltung. Die dargestellte Sonnenblume erzeugt mit ihrem gebeugten Kopf, leicht schiefem Stamm und Blatt-Glieder eine ausgesprochen triste menschliche Wirkung.

 

Egon Schiele, Sonnenblume II., 1909-1910, 149,5 x 30 cm, Öl auf Leinwand, Wien Museum

 

Ein persönlicher Favorit ist die „Versinkende Sonne“ (Bild 2) aus dem Jahr 1913, das auf Dauerausstellung im Leopold Museum hängt. Die herbstliche Landschaft bildet zwei kleine Inseln in der Nähe von Triest, Italien ab, während die Abendsonne zwischen ihnen den Horizont berührt und im Meer zu versinken scheint. Der Mittelgrund besteht aus dunkelgrünen Feldern mit vereinzelten gelben Blumen und einem Hügel, der den Bildraum zwischen den zwei Inseln harmonisch befüllt. Unmittelbar vor dem Betrachter / der Betrachterin erstrecken sich zwei Kastanienbäume, deren lose, gebräunte Blätter die herbstliche Jahreszeit andeuten. Die Bäume werden trotz ihrer Höhe von stützenden Stäbchen gehalten, die in vielen von Schieles Bilder vorkommen und in manchen Fällen als eine Andeutung der Christus-Kreuz-Beziehung verstanden werden können. 

 

Bild 2 Egon Schiele, Versinkende Sonne, 1913, Öl auf Leinwand, 90,5 cm x 90 cm, Leopold Museum, Wien

 

Rudolf Leopold erläutert in seinem Buch „Egon Schiele. Landschaften“ anhand von Schieles Briefverkehr, dass er dieses Bild trotz der herbstlichen Merkmale von April bis Anfang Mai malte. Dies trägt zur Hypothese bei, dass er die Verwesung der Bäume als symbolisches Mittel verwendete anstatt die Jahreszeit abzubilden. 
Die Linienführung ist von eckiger, überwiegend horizontaler Dynamik gekennzeichnet. Die fast schon gekritzelten Linien sind laut Leopold die „Erlösung von Schieles früherem Naturalismus“. Die zwei streng nach oben strebenden Kastanienbäume bieten im Gegenteil dazu vertikale Anhaltspunkte der fast perfekten Rasterung des Sujets. Wenn der Horizont des Meeresspiegels, die Mittellinie des Hügels und die zwei Bäume als Teilungslinien der Bildfläche betrachtet werden, so kann das Gemälde in neun gleichgroßen Fragmenten zergliedert werden. Statt der üblichen warmen, orangenen Farbpalette wird hier mit kühlen Rosa- und Blautönen gearbeitet, die eine starke Melancholie vermitteln, vergleichbar mit Kolo Moser. Die Grenzsituation der sinkenden Sonne und den fast blattlosen Bäumen gibt Allegorien zu emotionalen Grenzzuständen wieder.
Obwohl Schiele als einer der Hauptvertreter des deutsch-österreichischen Expressionismus bekannt ist, spiegelt sich in seiner Philosophie zu Landschaftsmalereien die Affinität zum Symbolismus wider. Dadurch, dass die beiden Bewegungen einige gemeinsame Grauzonen besitzen, fällt es in einigen Fällen schwer, die einzelnen Bildwerke in stilistischer Hinsicht auseinanderzuhalten oder zu differenzieren.

 

Wie es aus dieser Forschung hervorgeht, wird die Landschaftskunst eines Künstlers in vielen Fällen vernachlässigt oder für minderwertiger als andere Gattungen gehalten. Landschaftsbilder sind im Falle Schieles essenziell, um seine Weltanschauung und Naturverbundenheit zu verstehen. In diesem Sinne halte ich Schiele für ein großes Vorbild, da er die Abbildung der Natur zur Projektion seiner eigenen Gefühlslage anwendet. Inspiriert von diesen Gedanken habe ich eine Serie von Landschaften gemalt, die ich anschließend gerne vorstellen möchte.

 

1. Archetype of solitude

Bild 3 Judit Flamich, The archetype of solitude, 2022, Öl auf Leinwand, 70 x 50 cm

 

Im Bild „The archetype of solitude“ (Bild 3) überragt ein gigantischer Acer Macrophyllum den einsamen Denker auf der Parkbank. Da die großen Äste des Ahorns bislang weder von Blüten noch Blättern geschmückt sind, verschwindet der umgebende Park in der Vergessenheit und verwandelt sich in eine räumliche Leere, die die Vorstellung symbolisiert, von seinen Gedanken gefangen zu sein. Obwohl Schieles Landschaften zumeist menschenleer blieben, verkörpert für mich der Baum eine Art Allegorie der verzweigenden Gedankengänge. 

 

2.  Weidenbäume

Bild 4 Judit Flamich, Weidenbaum I.-III., 2020-2021, Öl auf Leinwand

Mit seinen langen, belaubten Armen bietet der Weidenbaum (Bild 4) ein Gefühl von Schutz. Wenn die Äste sanft die Wasseroberfläche berühren, spiegelt ein verschwommenes Bild eine andere Perspektive wider. Das plätschernde Wasser des Teiches im Türkenschanzpark (Wien) und die im Wind wehenden Arme stehen für Hoffnung und Unruhe, den ewigen Kreislauf des Lebens.

 

3. Waiting for spring

Bild 5 Judit Flamich, Waiting for Spring, 120 x 90 cm, Öl auf Leinwand 

 

Der kahle Baum (Bild 5) lässt einen wundern, in welcher Jahreszeit sich die junge Person sich überhaupt befindet, die sich unter dem fehlenden Laub des gigantischen Gewächses für Unterkunft bittet. Das Bild steht für die Hoffnung und Unruhe, dass es noch einmal blühen wird. Der fleischige Stamm und die Äste umschlungen verzweifelt den Bildraum, einige davon in die Höhe, andere weg von dem aufsteigenden rosa Himmel.

 

Abbildungsverzeichnis:

Bild 1: https://sammlung.wienmuseum.at/en/object/202769-sonnenblume/

Bild 2: https://www.leopoldmuseum.org/de/sammlung/highlights/106  

Bild 3, 4, 5: ©Judit Flamich

 

Wer mehr über die Künstlerin und ihre Werke erfahren möchte, gelangt hier zu ihrem art24-Profil.