Ritzbilder Teil 2 – Kunst als Möglichkeitsraum

23.11.2022
Yvonne Roos

Durch das Künstlerinnen-Interview mit Judith Roesli über ihre Ritzbilder, sind wir zugleich auch zurück zu den Ursprüngen dieser Technik.  Im 2. Teil wird ein weiterer Künstler vorgestellt, der sich dieses Verfahren aneignete. Es wird über die Parallelen zwischen den drei Künstler:innen gesprochen und abschliessend gehen wir der Frage der Mimesis nach. 

Paul Klee verwendet die Grattage als prähistorische Rückbesinnung

Neben Max Ernst ist Paul Klee als weiterer Künstler anzubringen, der die Technik des Ritzens zur Profession brachte. Klees Ritzzeichnungen weisen Parallelen zu prähistorischen Zeichnungen auf, die in Stein geritzt, geschabt oder gepicht wurden (sog. Petroglyphen). Dabei sind auch Parallelen zu Judith Roesli’s Ritzzeichnungen zu erkennen. Sie verweisen beide auf etwas Urtümliches, das jeglicher modernen menschlichen Ausdrucksform innewohnt. Klee benutzte dickflüssige Kleisterfarbe und ritzte dann die Zeichnung mithilfe eines geeigneten Gegenstandes in die Farbschicht ein (vgl. Zentrum Paul Klee, S. 18). Dadurch zeigt auch er, was in seinen Werken steckt. Was mit mehreren Farbschichten aufgebaut wurde, wird durch das Ritzen freigelegt und lässt – wie bei Roesli – ganz neue Werke entstehen.

Daneben kann die Technik auch als Analogie zur menschlichen Psyche und dem Innenleben gewertet werden. Klee setzte sich reflektiv mit diversen Themen auseinander (vgl. Zentrum Paul Klee, S. 19). Und auch als Künstler der Avantgarde war er an einer Reduktion/Abstraktion interessiert und wollte das «Wesentliche» entsprechend darstellen. Dies widerspiegelte sich für ihn in Linien. Deswegen waren die eingangs erwähnten prähistorischen Werke für ihn von besonderem Interesse. Diese bildeten oft stark reduzierte Menschen, Tiere und Gegenstände ab, wie auch abstrakte Ornamente (vgl. Zentrum Paul Klee, S. 21). Die Linie besitzt etwas Zeitloses und Urtümliches, sie transportiert die über Generationen hinweg vermittelte Lust des menschlichen Ausdrucks und wurde bereits in prähistorischen Zeiten mit den verfügbaren Mitteln entwickelt. So etwa die Zeichnungen an den Felswänden der Höhle der Combarelles in der Dordogne (vgl. Kraal 2020, S. 5). Auch bei Klee sind – wie bei Roesli – die Grenzen zwischen abstrakten und mit Bedeutung aufgeladenen Zeichen nicht fest, sondern fliessend (vgl. Zentrum Paul Klee, S. 23). Das Wegritzen der Oberfläche kann somit, neben dem reliefartigen und bildhauerischen Verfahren also auch als das Arbeiten mit Linien verstanden werden, dass das Wesentliche sichtbar macht. 

 

Judith Roesli’s fantasievolle Ritzbilder

Durch das Ritzen werden also aus dem Vorhandenem neue Formen herausgearbeitet. Die darunterliegenden Strukturen bestimmen diese neue Ausdrucksform massgeblich mit. Das Übermalen, wie auch das Abkratzen und Freilegen ist ein Akt des Auswählens und der Rekombination einer Vielzahl von Alternativen vgl. Ubl 2013, S. 149). In den Ritzbildern wird die Flächigkeit der Leinwand gestört, ja gar zerstört. Das Bild wird durch die verschiedenen Ebenen dynamisiert und erinnert so an Reliefs, Stuckarbeiten und Sgraffitos. Allesamt Kunsttechniken, die oft als Zwischenform von Malerei und Skulptur bezeichnet werden und die, bedingt durch ihre Dreidimensionalität und dem Spiel zwischen Flachheit und Tiefe, Licht- und Schatteneffekte erzeugen. Diese Effekte der Dreidimensionalität bestimmen und gestalten die Werke grundlegend mit. Sie hauchen ihnen Leben und Plastizität ein. Von der Malerei ausgehend, wird diese plötzlich vielfältig, flexibel und weicht von der Idee einer rein zweidimensionalen Darstellung auf einer flachen Oberfläche ab. Bildhauerei und Malerei rücken plötzlich ganz nah aneinander. Judith Roesli’s Vorgehen greift diesen Effekt auf, die auch bereits Max Ernst und Paul Klee zu nutzen wussten. Dabei werden zufällige Spuren im Werk gesetzt und bringen neue Farbstrukturen und Formen hervor. Sie erforschte so auf eine ähnliche Art und Weise die Oberfläche des Materials auf dem Bildvehikel. Sie nutzt die Zufälligkeit, um sich zu inspirieren und Dinge oder Formen (darin) zu entdecken. Auf eine ähnliche Weise wie Ernst und Klee:

«The goal was to let one’s unconscious mind find patterns within the textures to make objects and creatures appear. As if finding shapes in the clouds or within the grain of wood, Ernst discovered new nature-oriented forms in the process.» (Newman 2018, S. 17, dt. «Das Ziel war es, das Unterbewusstsein Muster in den Texturen finden zu lassen, um Objekte und Kreaturen erscheinen zu lassen. Als ob er Formen in den Wolken oder in der Maserung des Holzes finden würde, entdeckte Ernst dabei neue naturnahe Formen.») 

Bei Roesli lassen dabei die ausgewählten einen inspirierenden Prozess. Somit erfährt die Malerei eine Metamorphose: Von einem flachen Farbauftrag, der die Möglichkeit zur Illusion innewohnt, veränderte sich die Fläche hin zu einem dreidimensional auftretenden Objekt, das nicht nur durch einen illusionistischen Effekt Dreidimensionalität erzeugt. 

Max Ernst wurde dabei besonders von der surrealistischen Bewegung, der Diskussion um das Unbewusste und der Psychoanalyse beeinflusst. Die Grattage und Frottage wurden von ihm erfunden, um eine «automatisierte Technik» zu fördern; das stets knapp zu entweichen drohende Unbewusste sollte festgehalten werden und in der Kunst Ausdruck finden. (vgl. Newman 2018, S. 21). Dabei gibt es bei Ernst’s (halb)automatischen Verfahren stets eine Spannung zwischen verschiedenen Ebenen, die auch bei Judith Roesli zu beobachten sind. Bei beiden findet sich eine Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen einem Inneren und Äusseren, Variablen, die sich aufgrund von Überlegungen und rationalen Entscheidungen entwickelten (vgl. Newman 2018, S. 23). So sind imaginierte Inhalte zu sehen, die sich aber auch auf reale Inspirationsquellen berufen, wie etwa vegetabile Motive, aber auch die Materialität an sich. Das Innere und Äussere sind deshalb in doppelter Hinsicht zu verstehen. Ein kognitives/geistiges Innere, das das Werk beeinflusst, etwas freigelegt, während es gleichzeitig durch die äusseren Bedingungen beeinflusst wird und in einem bestimmten Rahmen agieren muss, etwa bedingt durch die Materialität, ihre Reaktion und die Technik. Es meint aber auch die verschiedenen Schichten im Werk selbst, die diesen Prozess spiegeln und die etwas nach aussen tragen oder im Inneren versteckt lassen, in dem nur an bestimmten Stellen geritzt wird.

Diese Verwandlung und Metamorphose des Materials rufen bei Ernst und Roesli verschiedene Erinnerungen an Vorgänge hervor. Etwa die Wahrnehmung in traumähnlichen Zuständen, Veränderungen in der Naturwelt, aber auch Übergänge von Gemüts- und Geisteszuständen. Die abstrahierten Darstellungen regen bei Ernst offenbar den Geist an, so dass das rein Rationale ausgelöscht wird. Bei Judith Roesli scheinen die Muster gar eine ornamentale Funktion zu haben, wie sie beispielsweise in heiligen, mittelalterlichen Handschriften auftreten, die dadurch eine kontemplative Anregung und Versenkung erzeugen sollen. Dabei wird etwas Kosmologisches, Unerklärliches und Traumartiges verbildlicht, das in der Welt enthalten, aber stets von einem Unerreichbaren, Unerklärlichen umgeben ist. Dabei entfaltet sich Überraschendes, das in den Bann zieht und innere Bewegung und Ruhe mit gleichzeitiger Unruhe auslösen. So etwa die Muster, tierische und menschliche Figuren, Gestalten und Pflanzenmotive in Roesli’s Werk «Alles begann im Palast». Farben treten hervor und regen die Fantasie an, die Interpretationen nur so herauf sprudeln lässt. Und gleichzeitig ist darin eine Vertrautheit enthalten, die wir aus unserem Alltag, aus Märchen und aus Geschichten kennen. Dabei spielt Roesli auch mit der Sprache. Ihre Bildtitel lenken die Gedanken hin zu diesen bereits bekannten und neu erfundenen Märchen und Erzählungen und lassen sie uns weiterdenken. 

Sowohl Roesli als auch Ernst lösen zudem die Beziehung zwischen Form und Struktur auf und kombinieren diese neu. Damit wird von diversen normativen Vorstellungen abgewichen, die mit unserem Sehen und unserem kulturell erlernten Verständnis von Kunst zusammenhängen. Folglich auch mit traditionellen Vorstellungen davon, was Malerei und was Skulptur ist, obgleich diese Vorstellungen im Grunde schon in vergangenen Kunsttraditionen «durchbrochen» wurden. So sei an mittelalterliche Stuckarbeiten gedacht, die oft bemalt wurden, aber zugleich reliefartig hervortraten. Roesli setzt diesen Bruch mit der Vorstellung fort. Der Verwandlungsprozess ist durch das Einritzen in das Material gegeben. Dabei wird etwas eingeschrieben/eingeritzt, das uns auffordert, Neues zu erkennen und unsere Sichtweise zu hinterfragen. Bei Roesli, wie auch bei Ernst wird dazu angeregt, sich in das Werk zu vertiefen und hinzugeben. Gleichzeitig wird auch der Prozess des Denkens und Verstehens über das Abgebildete angeregt, dem stets etwas Irrationales innewohnt, genau wie dem Arbeitsprozess selbst. Alles scheint in einem momentanen Stadium, einem Verwandlungsprozesses festgehalten. Denn in der Grattage wohnt eine potenzielle und offensichtliche Möglichkeit der Veränderung inne, die dadurch in den künstlerischen Prozessen von Roesli, Klee und Ernst zu entdecken ist. Die Ritz-Technik ist eine Reflexion der künstlerischen Tätigkeit und Weiterentwicklung, aber auch des Bildinhaltes. Die Materialität wird zerstört, um sofort neu geformt zu werden – und damit auch der Kontext. Die Zerstörung offenbart darunterliegende Strukturen und Zusammensetzungen, die überraschen und ins Staunen versetzen.

Ritzbilder als Mimesis von Naturprozessen

Wie bereits erwähnt, drängt sich durch das Abkratzen die Vielschichtigkeit der Bilder hervor. Das Werk und seine Materialität werden damit Teil des Wesentlichen. Dies zeigt sich in Form von Linien und Flächen, aber auch in der Topologie und Schichtung des Materials. Diese Materialschichtung stellt eine Parallele zu natürlich entstandenen Schichten, Ablagerungen und Abtragungen der Erde her, Zeichnungen, die sozusagen in der Natur entstehen. Die Kunst nimmt sich dieser natürlichen Prozesse an und ahmt Konstruktion und Zerstörung nach. Die Natur erfährt somit nicht mehr bloss in ihrer oberflächlichen Erscheinungsform eine Nachahmung, sondern es findet auch eine Mimesis der natürlichen Vorgänge statt. Dabei ist stets nur ein Teil des Darunterliegenden aufgedeckt, während, wie in den Ritzbildern, im Grunde eine unendliche Zahl an Möglichkeiten von Kombinationen des Zeigens oder des Verdeckens möglich ist. Auch die Grattage zeigt vieles und enthält gleichzeitig ein geheimnisvolles Bildpotenzial, das uns verborgen bleibt. Max Ernst, Paul Klee und Judith Roesli spiel(t)en mit Dunkelheit und Helligkeit, mit Taktilem und Optischem, mit dem Hineinsehen und Ansehen, zwischen einer möglichen Transparenz und dem Opaken durch diese Schichtung (vgl. Ubl 2004, S. 82). In den Ritzbildern wird aber auch die Zeitlichkeit des Prozesses visualisiert. Am Ende wird nicht eine einzige simultane Erfahrung gezeigt, sondern ein vergangenes, ein in der Zukunft liegendes und ein ungleichzeitiges Sehen. Denn der Blick wird nie alles wahrnehmen können, die Welt und ihre Kunstwerke, werden immer ein Geheimnis in sich beherbergen (vgl. Ubl 2004, S. 7).

Das Künstlerinnen-Interview mit Judith Roesli sowie den 1. Teil der Auseinandersetzung mit der Grattage, kannst Du hier nachlesen.

 

Glossar Teil 2:

Mimesis: Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet «Nachahmung». Der Begriff, geprägt von Platon und Aristoteles, hat verschiedene Bedeutungen für die Künste und ist stets in einem historischen Kontext zu verstehen. Die Mimesis der Natur bezieht sich auf lebendige Formen und Organismen und verweist damit auch auf deren Schönheit und das Verhältnis von der Darstellung zur Welt, also der Wirklichkeit. Dabei sollte also nicht nur eine «tote», exakte Kopie des Sichtbaren erzeugt, sondern das Lebendige durch den Malprozess verwirklicht und dargestellt werden. Das Werk ist damit nicht nur Kopie, sondern wird dabei selbst zur geschaffenen Natur (natura naturata). Mittels abstrakter, aber auch konkreter Kunst wurde eine neue Realität erzeugt, wodurch auch der Abbildcharakter der Kunst hinterfragt wurde und ob damit auch etwas sichtbar gemacht werden kann, das nicht sichtbar ist (Paul Klee).

Relief: Die frühesten Reliefs stammen aus der Höhlenkunst des oberen Paläolithikums. Auch in Megalithen aus der Jungsteinzeit wurden Reliefs eingeschnitzt. Unter Relief (von ital. «rilievo» = Erhebung, Erhöhung) versteht sich eine Gestaltungsform, die sich plastisch von einem flachen Hintergrund abhebt. Dabei wird unterschieden zwischen dem «Flachrelief» (z. B. Sgraffito), «Halbrelief» und «Hochrelief». Daneben gibt es auch «versenkte Reliefs», welche als Hohlform in die Fläche eingearbeitet wurden. Als Material kann fast alles verwendet werden, z. B. Holz, Stein, Gold, Eisen etc. Reliefs können unterschiedlich hergestellt werden, etwa durch Giessen, Treiben, Schmieden, Gravieren oder Prägen. Da das Relief Kontakt zur Hintergrundplatte hat, also nicht wie eine Skulptur freisteht, wird es nicht als Plastik bezeichnet, obwohl es plastisch gearbeitet ist. Dadurch wird das Relief oft als bildhauerische Technik bezeichnet, die sich der Flächigkeit der Malerei annähert.

Sgraffito: Das Sgraffito (ital. «sgraffiare» oder «graffiare», = «kratzen»), ist eine Technik, die auf Wandflächen angewendet wird. Nachdem verschiedene Farben von Putzschichten aufgetragen wurden, werden die oberen Schichten durch Abkratzen so bearbeitet, dass die darunterliegenden Schichten wieder freigelegt werden. Dadurch wird ein Bild oder ein dekoratives Muster erzeugt. Das Sgraffito gilt als Stucktechnik.

Stuckarbeit: Stuck, aus dem Italienischen «stucco» für «Stück» oder auch «Putz» und ist eine Gestaltungsform, bei der Material auf einer Fläche aufgetragen wird, um daraus plastische Elemente zu formen, zum Beispiel an Wänden, Decken oder Gewölben. Als Material wird dabei Baumörtel oder Gipsputz verwendet. Stuckarbeiten wurden schon in frühen Hochkulturen angefertigt. In der Antike wurden sie für die Ausgestaltung von Innenräumen und Fassaden verwendet. 

 

Weitere Literatur zum Nachschlagen:

Newman, Rachel Beth (2018). Max Ernst, Grattage, and The Horde Series. The University of Texas at Austin. (Thesis).

Ubl Ralph (2013). Prehistoric Future: Max Ernst and the Return of Painting between the Wars. Chicago: University of Chicago Press.

Ubl, Ralph (2004). Prähistorische Zukunft. Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes. Fink.

Werner Spies, ed. (1991). Max Ernst: A Retrospective, London: Tate Gallery.

Zentrum Paul Klee (2021). Ausstellungsführer: Paul Klee. Ich will nichts wissen, Bern.

 

Bildnachweis:

Titelbild: Alles begann im Palast, Detailaufnahme. Judith Roesli. Ölkreide. Foto: Judith Roesli.

Bild_1: Der Mann mit der Pfeife (Bildnis des Dr. Paul Gachet). Vincent Willem van Gogh, 1890, Radierung auf Velinpapier, Blatt: 31.6 x 21.6 cm, Foto: Philadelphia Museum of Art.

Bild_2: Alles begann im Palast, Detailaufnahme. Judith Roesli. Ölkreide. Foto: Judith Roesli.

Bild_3: Alles begann im Palast, Detailaufnahme. Judith Roesli. Ölkreide. Foto: Judith Roesli.

Bild_5: Alles begann im Palast, Detailaufnahme. Judith Roesli. Ölkreide. Foto: Judith Roesli.

Bild_6: Les Combarelles. Eingravierter Kopf eines Pferdes, ca. 18,000-11,000 v. Chr., 40 cm, Foto: ARTSTOR_103_41822003849591, University of California, San Diego

Bild_7: Flussbaulandschaft. Paul Klee, 1924. Ölfarbe auf leinwandgeprägtem Papier (Pinsel und Nadel mit Gouache und Feder eingefasst, auf Karton, 36 cm x 53.7 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.