Künstler:innen-Interview mit Jiliang Zhang (Liang)

08.07.2022
Yvonne Roos

Jiliang Zhang (Liang) ist eine Künstlerin aus Tianjin, China. Heute lebt sie in der Schweiz und studiert Kunstgeschichte an der Universität Basel. Auf art24 präsentiert sie uns ihre Werke, die sich aktuell besonders durch eine Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen der Wahrnehmung und menschlichen Geisteszuständen auszeichnen. Dies zeigt sich in ihren Bildern in Form von realen Situationen, die sich langsam auflösen. Dadurch bildet sie die Grenzen des Unbewussten und des Bewussten als fliessend ab. Allerdings schimmert in ihren Arbeiten stets etwas Geheimnisvolles und Unergründliches durch – als ob das Rätsel unserer Wahrnehmung nie ganz zu lüften sei. 

Im Interview verrät Jiliang mehr über ihre Gedanken und Herangehensweise beim Malen ihrer Werke. Im Anschluss an das Interview folgt eine Bildbeschreibung von der Interviewerin zum Werk «Aus der Ferne». 

YR: Hallo Jiliang. Schön, dass Du mit uns über Deine Kunst redest. Ich würde gerne die Werke Deiner Serie «wach und träumen» besprechen, die Du auf art24 zeigst. Bevor wir aber mit der ersten Frage zur Serie starten, wollte ich Dich fragen, wie Du zu art24 stehst?

JZ: Danke. Meiner Ansicht nach ist art24 eine freie Plattform. Frei heisst einerseits, dass jede Person seine eigenen künstlerischen Untersuchungen oder seine gegenwärtigen Erlebnisse durch die Malerei frei mitteilen kann; andererseits ermöglicht art24, dass jeder Mensch aus dieser großen „Sammlung“ an Kunstwerken, ein entsprechendes Werk finden kann, das mit dem eigenen Gemütszustand oder sogar geistigem Zustand zusammenpasst. Dadurch bekommen beide Seiten der Beteiligten einen Raum, wodurch eine Brücke zwischen Menschen gebildet wird.

YR: Nun zu Deiner Werkserie: Deine Bilder scheinen stets dieser Verbindung von Wahrnehmung / Phänomenologie und einem bestimmten, beinahe magischen Gefühl auf der Spur zu sein. Was ist das für ein Gefühl? Der Titel Deiner Serie «wach und träumen» spricht die Phänomene des Schlafens und Wach-seins an. Was spielen diese für eine Rolle im Zusammenhang zur Wahrnehmung und diesem Gefühl?

JZ: Wenn ich sage «ich fühle mich», dann befinde ich mich gerade in einem Traumzustand. Denn wenn man sich selbst fühlt, ist man in seinem Inneren. Nachdem man daraus entsprungen ist, kann man nur noch über dieses Gefühl «nachdenken», aber es nicht mehr «fühlen».  «Fühlen» heißt ja, man ist in einem Zustand, wie wenn man zum Beispiel von Musik umhüllt wird. Darin hat man noch ein Stück Bewusstsein und ist fähig, einige Gefühlen davon auszudrücken, aber nicht ganz. Dieses Unbeschreibliche darzustellen, so könnte man vielleicht sagen, ist eine Fähigkeit von Schriftsteller:innen und Künstler:innen. In diesem Darstellungsprozess ist die klare Wahrnehmung wichtig. Der/die Künstler:in muss wissen, welche Elemente und deren Zusammenwirken ein bestimmtes Gefühl ausrufen/verstärken/vermindern können. Dadurch können die Betrachterin oder der Betrachter mit Hilfe der Augen der Künstler:innen das Gefühl bekommen.

YR: Deine Bilder erinnern mich an einen Zustand der Geistesabwesenheit, durch das ein selbstvergessenes Körperbewusstsein eintritt. Es scheint dann eine Spannung zwischen dieser Abwesenheit und diesem passiven Bewusstsein zu entstehen. Könnte also gesagt werden, dass auch das Wach-sein als traumhaft empfunden werden kann? Oder anders ausgedrückt. Ist die Geistesabwesenheit ein traumhafter Zustand, der uns gerade darum in Erinnerung bleibt, weil wir ihn durch den Körper wahrnehmen?

JZ: Meinst Du die Bilder in der Serie des «Wandernden»? (Die Serie beinhaltet die Werke «Auf dem Weg I», «Beim Warten», «Die Wandernde», «Im Frühling»)

YR: Ja, zum Beispiel, oder das Bild «Beim Warten».

JZ: Ich denke, das ist eine interessante Frage, ob man unter der Geistesabwesenheit den eigenen Körper noch wahrnehmen kann, und falls ja, inwiefern. Wir könnten annehmen, dass jeder Mensch einen Geist besitzt, der alles von innen wahrnehmen kann. Dieser prägt auch das Gefühl der Geistesabwesenheit in sich und damit den körperlichen Zustand, die Emotionen, die plötzlich auftauchenden Gedanken, die Handlungen der Menschen in unserer Umgebung, usw. Wenn wir wollen, können wir versuchen unseren Geist vor das innere Auge einzuladen, um ihn zu fragen. Ich habe seit meiner Kindheit solche Gefühle/Vorstellungen, als ob ich ein anderes Auge habe, das in der Luft schwimmt und alle meine Gemütszustände und meine sichtbare, physische Position anschaut. Dieses Gefühl hat mir unzählige unklare Bilder ohne Konturlinien geboten, in denen ich selbst manchmal wie eine dritte Person anwesend bin. Im Chinesischen kann man die Geistesabwesenheit als «das Herz/der Geist ist nicht da» übersetzen. Wenn der Geist somit nicht da ist, sich nicht im «Hier und Jetzt» befindet, wo ist dieser dann? Dort verstecken sich das Individuum und die persönlichen Geschichten.

YR: Ich erkenne oft das Motiv der Reise oder des Stillstands in deinen Bildern. Wie hängen für Dich Wahrnehmung und Fortbewegung zusammen? Und sind diese Übergänge fliessend?

JZ: Wenn man in einer Strassenbahn oder in einem Zug sitzt, wird es schwierig, etwas zu «tun». Auch wenn man sich in einem fahrenden Zug auf seine Arbeit konzentriert, muss man stets etwas von seiner Aufmerksamkeit behalten, denn sonst verpasst man seine Station. In dieser Handlungslosigkeit beginnt aber die innerliche Bewegung, ob bewusst oder unbewusst.

YR: Was bedeutet für Dich «Rhythmus» in dem Zusammenhang?

JZ: Für mich ist «Rhythmus» mehr ein Begriff der Farbgebung. Darüber hinaus ist Rhythmus für mich auch das Fortfahren und Anhalten des Wagens, oder die Abwechselung zwischen Halbschlaf und plötzlichem Erwachen.

YR: Was für eine Rolle spielen denn die Bewegung und der Rhythmus im Schlaf oder Halbschlaf, bzw. im Traum oder im luziden Traum? Zum Beispiel bei deinen Werken «Beim Warten», «Auf dem Weg I» oder «Im Frühling».

JZ: Meiner Erinnerung nach ist es schwer, in einem Nachtzug einzuschlafen. In diesem sogenannten «Zug mit grünen Häuten», konnte ich ständig das sich nach vorne fortsetzende Hüpfen des Zuges spüren, selbst wenn ich nicht durch das Fenster nach Aussen blickte. Diese Spuren der Bewegung – während der Körper still ist – wirken einerseits als «Hintergrund», sie dienen zum Schlafen, oder helfen dabei, einen unbewussten Zustand zu erreichen; andererseits verunmöglicht es dieses Rütteln, dass wir uns auf irgendetwas konzentrieren können. Es ist eine rätselhafte Erfahrung: Denn mit dieser rhythmisierten Stimmung im Hintergrund, schläft ein Teil des Bewusstseins. Dadurch werden die Gefühle und Gedenken befreit, sie gehen in die Erinnerungen zurück oder fliessen in eine andere Welt über – wie der fortfahrende Zugwagen! Die sich ununterbrochen verändernde Landschaft draussen wirkt ähnlich, aber hier durch das Medium des Sehsinnes. Bei einer kurzen Reise taucht dieser traumhafte Zustand ebenfalls auf, nur ist die Situation etwas anders, da man nur für kurze Zeit in diesen Zustand des Halbschlafs oder in die Luzidität eintritt und nicht in den Tiefschlaf.

YR: Kannst Du etwas über den Zusammenhang des Allein-seins und unter anderen Menschen sein in Deinen Bildern sagen? Zum Beispiel in den Bildern «Beim Warten» oder «Auf dem Weg I (Schlafzug in China)». Hat das auch etwas mit Stille zu tun?

JZ: Wenn man auf seinem Lebensweg ist, können die Eltern, Lehrpersonen und Freunde viele verschiedene Formen der Unterstützung geben, aber man muss von sich aus Schritt für Schritt seinen Weg durchlaufen. In diesem Sinne ist jeder Mensch eigentlich allein. In Gemüts- und Geisteszuständen passiert etwas ähnliches. Menschen können einander zwar verstehen, sogar mitfühlen, aber es gibt fast niemanden, der das Gefühl des anderen ganz decken oder umhüllen kann. Jeder hat seine eigene Geschichte und aus dieser individuellen Geschichte entwickelt jeder Mensch seine eigene Art des Fühlens und Denkens... Das hört sich vielleicht traurig an, aber daraus wurzelt das Individuum und die Unersetzbarkeit jedes einzelnen. Und, wenn ein Mensch alleine ist, in dem Sinne, dass er vollautomatisch in seiner selbst versunken ist, treibt seine komplexe Geschichte in Form eines Gemütszustandes in der Luft in ihm und um ihn herum. Wenn dieser Mensch sich zwischen vielen Menschen befindet, wird dieses innerliche «Allein-sein» gesteigert.

YR: Die Welt und unsere Existenz bergen viele Geheimnisse, so zum Beispiel auch, dass wir das Denken im Traum ablegen können. Inspiriert Dich dieses Geheimnisvolle dazu, Kunst zu machen? Wenn ja, magst Du das erklären?

JZ: Ja, einige Geheimnisse treiben mich dazu, sie ausdrücken zu wollen. Aber ich würde eher sagen, es ist umgekehrt. Ein starkes Gefühl überkommt mich und dann versuche ich, das zu malen. In diesem Prozess spüre ich das Geheimnisvolle, da ich immer wieder in mich hineinschauen muss, um dieses Gefühl klarer wahrnehmen zu können. Dabei ergründe ich, welche Ereignisse oder Situationen in der Szene das bestimmte Gefühl ausrufen.

YR: Wir haben schon einiges zum Thema Wahrnehmung gehört. In diesem Zusammenhang wollte ich Dich noch fragen, was Geräusche in Deiner Kunst für eine Bedeutung haben?

JZ: Das ist eine interessante Frage, weil die Geräusche, zum Beispiel eines Zuges, tief in meiner Erinnerung verwurzelt sind. Zwar habe ich nie daran gedacht, speziell diese Stimmung darzustellen, aber so gehört zum Beispiel die rhythmische Geschwindigkeit des Zuges zum Gefühl des «Fortfahrens». Deshalb muss ich jedes Mal, wenn ich versuche meine Erinnerung wieder zu beleben, in diese Stimmung der Geräusche eintauchen.

YR: Was für Themen beschäftigen Dich im Moment?

JZ: Ich habe einige «längere zu verarbeitende Themen», wie zum Beispiel, Spieglungen, blaues Licht, Isolation... Normalerweise mache ich nun Forschungsskizzen, wenn das Streben stark genug ist, verwende ich diese Nachforschungen in den Gemälden.

YR: Jiliang, vielen Dank für Deine Zeit und Dein Vertrauen in art24. Wir sind gespannt und freuen uns darauf, was Du uns in Zukunft noch mit Deiner Kunst zeigen wirst.

 

Bildbeschreibung von Yvonne Roos: «Aus der Ferne» (Öl, 55 x 80 cm, Januar 2017), gemalt von Jiliang Zhang (Liang) 

Diffus ineinander verlaufende Farbflächen erzeugen den Eindruck einer verschwommenen Winterlandschaft mit einem verschneiten Weg, der sich in der Ferne verliert. Im Bild dominieren helle, bis nahezu grelle Farben. Dabei dehnt sich vom unteren Bildrand bis zur oberen Bildhälfte eine weisse Masse aus. Das Weiss kreiert eine geheimnisvolle, einsame Stille und zieht Betrachtende in den Bann. Durch das intensive Ansehen des Bildes scheint diese Lautlosigkeit plötzlich anwesend und in die eigene, «reale» Welt einzugreifen. Auch die frische Winterluft wird förmlich spürbar. Am oberen Bildrand verläuft die weisse Masse langsam in ein Blau über, so dass der Blick auf den Himmel frei wird, der die rechte Ecke des Bildes ausfüllt. Direkt darunter taucht eine Baumgruppe mit regelmässigen, kahlen Ästen auf. Die Bäume strecken sich geradlinig nach oben und ragen in den Himmel hinein. Hinter den Bäumen lassen sich schattenartige Umrisse von weiteren Bäumen erkennen, wodurch die unbestimmbare Grösse des Waldausschnittes angedeutet wird. An einzelnen Stellen schimmert der blaue Himmel durch und lässt den Blick auf seine unbekannte Weite annehmen. Dadurch wirkt die Baumgruppe sowohl bedrohlich und opak als auch geheimnisvoll und mystisch.

Das Weiss scheint sich der Baumgruppe langsam anzunähern und bewegt sich immer weiter in die Naturwelt hinein, um uns die Sicht zu versperren. Auf der linken Bildseite schimmert ein unbestimmter, gräulich-brauner Umriss hindurch. Womöglich eine Felsenformation, die sich wie eine Lawine in den Weg hineinstürzt. Ob dies tatsächlich Felsen sind, die von dieser weissen Materie verunklärt werden, oder ob die Fläche zur weissen Materie gehört, bleibt unklar. Durch diese Unbestimmbarkeit richtet sich der Blick auf das untere Bildfeld. Dort sind die Umrisse einer anonymen, gehenden Figur zu erkennen, deren Körper einen sanften Schatten auf den weissen Boden wirft. Die Kleidung der Person bestätigt den Eindruck einer Winterlandschaft. Der verschneite Weg, auf dem die Person geht, schlängelt sich zwischen der Baumgruppe und der unbestimmbaren, braunen Fläche hindurch. Zwischen diesen beiden Bildelementen befindet sich eine zweite gehende Figur, die sich durch die rote Bekleidung vom weissen Grund abhebt. Der Blick folgt weiter dem verschneiten Weg und entdeckt in der Ferne die sanften Umrisse einer dritten Person, welche immer mehr in diese Schnee-, Licht- und Nebelmasse hinein verschwindet – als würde sie von ihr verschluckt werden.

Wohin führt dieser unbestimmte Weg, dessen Verlauf uns verwehrt bleibt? Wo befinden sich die Menschen? Was ist hinter dieser weissen Masse zu entdecken, die sich über die gesamte Landschaft hinweg ausbreitet? Die Perspektiven, im ersten Moment nachvollziehbar und logisch, scheinen sich im nächsten Moment aufzulösen. Was ist Schnee und was ist Dunst- oder Nebelschwade? Wie gross ist der Wald und was ist dahinter? Durch den Farbauftrag wird ausserdem die Flächigkeit des Bildes betont, um dann im selben Moment wieder durch die Schattierungen und die Tiefe des Bildes negiert zu werden. Ist es eine Illusion, oder ist es eine reale Welt? Auch das Tageslicht, das im Schnee in Form von gelblich, violetten Flächen reflektiert wird, wird im nächsten Moment durch die grauen und braunen Flächen wieder verschluckt.

Ist es also eine reale Landschaft, ein Traum oder vermischen sich, wie die verschiedenen Landschaftselemente und Naturzustände im Bild, auch die Realitäten miteinander? Wo beginnt der Traum und was gehört zur «realen» Wahrnehmung? Und wo beginnt das Bild und wo unsere tatsächliche Wahrnehmung? Können diese Ebenen überhaupt voneinander getrennt werden? Was befindet sich hinter dieser weissen Wand? Sie scheint sowohl alles zu begrenzen als auch alle Möglichkeiten offen zu lassen. Sie könnte als Platzhalter für verschiedene Arten der Wahrnehmung dienen und diese somit miteinander verbinden. Dadurch erscheinen die Wahrnehmungswelten zwischen Traum und Wachzustand, zwischen Bildebene und Realität plötzlich zusammenhängend und unzertrennbar. Formen kreieren sich abhängig voneinander, bedingen sich aber auch gegenseitig, um ihre Form anzunehmen. Dadurch werden sie bestimmbar, rücken aber sogleich auch wieder ins Unbestimmbare. Dies eröffnet eine schiere Unendlichkeit an Möglichkeiten. Die Perspektive, der Bewusstseinszustand, Lichteinfälle und Sinneswahrnehmungen beeinflussen den Blick auf diese Welt(en). So erscheinen erst mit Fokussierung auf den weissen Hintergrund sanfte Umrisse von Gebäuden, die sich aus Farbflecken zu formieren scheinen. Sind sie tatsächlich da, oder spielt uns die Wahrnehmung einen Streich? 

Was siehst Du sonst noch in diesem Bild? Projizieren wir alle unsere eigenen Gedanken und Arten der Wahrnehmung hinein? Womöglich lässt das Werk «Aus der Ferne» viele Optionen gleichzeitig zu und spricht dadurch eine individuelle Wahrnehmungsebene an. Doch was davon entspringt auch einer universellen kognitiven Wahrnehmungseigenschaft des Menschen? Jiliang Zhangs Landschaftsszene lädt durch die fliessenden Übergänge zu einer spirituellen Vertiefung ein. Einerseits eine Vertiefung in das atmosphärisch, rätselhafte Bild selbst, andererseits aber auch mit der Umwelt und Materie um uns herum, deren Erfahrung wird alle teilen und auf das Bild übertragen.