DUALITY.

18.09.2024
Thomas Haensgen

Oder: Viermal beinahe tot. Und was ich von dort mitgebracht habe. Für das Leben und für die Wand.  

Ich heisse Thomas Haensgen. Das ist meine Geschichte in aller Kürze:  

Vor etwas mehr als 10 Jahren passierte es mir das erste Mal: Ich wurde - unmittelbar nach ein paar Tagen Grippe - bewusstlos, kam ins Krankenhaus, hatte dort Krampfanfälle, fiel ins Koma. Enzephalitis.  

Exakt das gleiche ein Jahr später nochmal: Bewusstlosigkeit, Krankenhaus, Koma, Enzephalitis… 

Was ich in beiden Fällen allerdings auch hatte, war eine NTE. Eine Nahtoderfahrung. Ich war zwar an lebenserhaltenden Geräten angeschlossen, wurde künstlich beatmet, aber so richtig tot war ich nicht. Auch wenn mir die Ärzte hinterher sagten, dass das EEG kurzzeitig eine Nulllinie angezeigt hat (wohl ein ‚Gerätefehler), habe ich den Gedanken zur Seite geschoben. Denn ich war ja am Leben. Und das, was ich ‚dort’ erlebt habe, war mit Sicherheit einfach Einbildung. Irgendwas, das die Medikamente bewirkt haben. „Damit habe ich echt nichts zu tun“, war mein Gedanke, „Ich lebe. Also kann ich nicht tot gewesen sein.“ 

Aber: Ich hörte von jetzt auf gleich damit auf, tierische Produkte zu kaufen. Ging nicht. Ich konnte es unmittelbar nach der ersten NTE nicht mehr ertragen, dass ein Tier für mich stirbt.  

Und: Ich begann die ganze Welt zu bereisen. Weil ich zumindest mehr über ‚diese Sache mit dem Tod’ erfahren wollte. Ich hatte das Glück viel für internationale Kunden zu arbeiten und dadurch auch die Möglichkeit, um die Welt zu kommen. Und überall das Leben fotografisch festzuhalten. Darum ging es mir. Ich war in Asien, Amerika, Afrika, Australien und überall in Europa. Immer mit der Frage im Hinterkopf, auf die ich nach Antworten suchte: „Was ist dieser Tod?“ 

Nach Mexiko - Heimat des ‚Día de los Muertos‘.  

2022 führte mich nach Mexiko. Genau aus diesem Grund. Weil es in diesem Land eine besonders enge kulturelle und historische Verwurzelung mit dem Tod gibt. Und genau die wollte ich ‚live’ erfahren.  

Und das habe ich. Allerdings nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt habe: Zum Ende der Reise wurde ich wieder mal spontan bewusstlos. Und wieder Koma. Wieder Enzephalitis. Wieder Anschluss an lebenserhaltende Geräte. Und ebenfalls wieder: eine weitere NTE. Die dritte.  

Diesmal allerdings mit einer ziemlichen Gewissheit: weder die, noch die NTEs davor, waren Träume, medikamentenindizierte Halluzination, Einbildung. Sondern dreimal ‚ein Besuch‘ an einem sehr ungewöhnlichen Ort. Immer der exakt gleiche. Was ich nicht hatte, war eine Idee: Wie ich das, was ich erlebt hatte und was sich mir zwar klar und eindeutig darstellte, anderen vermitteln könnte.  

Man kann nicht einfach hingehen und erzählen, dass man im Jenseits war. Dass man eine Menge vor dort berichten kann. Weil man offiziell zwar nur während eines kurzen Moments da war (nämlich während der Flatline auf den EEGs, die ja nur gerätefehlerbedingt gewesen sein sollen), sondern dort für die Dauer einer Unendlichkeit. Und das gleich drei (3) mal. Man kann das schon erzählen, aber läuft Gefahr, dass einem der Gegenüber für total übergeschnappt hält. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das irgendwem ‚verklickern‘ könnte, ohne, dass mir meine Zuhörer einen Vogel zeigen. Insbesondere, weil genau ich auch derjenige bin, der jeden und jede, der oder die mir so eine Geschichte auftischen würde, zumindest belächeln würde. Also legte ich den Gedanken, irgendwem davon zu erzählen (erstmal) komplett auf Eis. Und suchte stattdessen weiter.  

 

In den von mir in Mexiko geschossenen Fotografien.  

 

Wenn ich dort - in dem Land, das ich mit dem Ziel bereist hatte, mehr über Leben und Tod herauszufinden - zu der Einsicht und Selbsterkenntnis gekommen bin, dass ich (wie bei den ersten beiden NTEs ebenso) eine Unendlichkeit an einem unglaublich ‚unglaublichen‘, Ort verbracht habe, dann sollte ich das doch vielleicht auch in meinen Fotografien eingefangen haben? Habe ich aber nicht. Auf meinen Bildern war das Leben zu sehen. In Mexiko. In seiner ganzen Pracht. Die Farben, die Vitalität, das Menschliche, die Freude, das Entdeckbare… Auch der Tod war enthalten. Als Teil des Lebens. In unzähligen Varianten. Als Skulpturen, in Malerei, Graffitis, in geschriebenen Worten… aber nicht in der Form, wie ich ihn während meiner NTEs erlebt habe - aus der Perspektive des Nicht-Lebenden. Sondern in den Fotos nur aus der Perspektive des Lebenden. Von jemandem, der die Faszination des Landes fotografisch festhält. Und während der NTEs blöderweise auch nie einen Fotoapparat dabei hätte (ihn dann aber auch nicht hätte nutzen können).  

 

Und näher ran an die Antworten.  

Ich reiste weitere 5 Male im Kundenauftrag nach Mexiko. Und recherchierte weiter, sprach weiter mit den Menschen, fragte weiter nach, suchte und fotografierte weiter… 

 … und fand Antworten: Ein Tag nach meiner sechsten Mexiko-Reise, wieder in Deutschland, musste ich erneut ins Krankenhaus. Wieder mit Bewusstlosigkeit, Koma, Enzephalitis. Und wieder mit einem unendlich langen Besuch an dem Ort, den ich bereits dreimal besucht hatte. Auf ‚der anderen Seite’. Aber diesmal mit der Möglichkeit, mir beim Erwachen aus dem Koma genau zu merken, wie und was es dort ist. Diesmal ohne dieses ‚dagegen ankämpfen, dass das ja nicht real sein KANN‘. Weil ich - wie beim NTE zuvor - die Gewissheit hatte, dass es keine Träume waren - aber diesmal mit dem Willen ran ging, mir das Erlebnis dort - insbesondere das visuelle - genau zu merken. Mir einzuprägen. Es nicht wie einen Traum, den man eh schnell vergisst, zur Seite zu legen, sondern zu behalten. Um zumindest die Frage beantworten zu können, wie ich das erzählen kann. Ich hatte die Fotografien. Inzwischen mehr als 6.000. Und ich wusste, dass es mir mit diesen nicht gelingen würde, die Geschichte über Leben und Tod zu erzählen. Sondern ich ‚nur‘ eine Geschichte über das Leben in Mexiko erzählen konnte. Ich wusste durch meine Arbeiten in Mexiko, dass es mit fotografischen Mitteln nicht möglich sein dürfte, dem Blickwinkel aus dem Jenseits wiederzugeben. Nicht den des diesseitig Lebenden, sondern den des jenseitig Unlebenden. Ich wusste genau wie es dort aussah. Und dass ich das mit fotografischen Mitteln nicht wiedergeben konnte.  

 

… mithilfe der Kunst.  

Also musste ich einen Schritt weitergehen und meine künstlerischen Fähigkeiten, die ich im Laufe meines Lebens aufgebaut habe, so einsetzen, dass das, was ich im Jenseits gesehen habe, auch für jemanden, der es nicht kennt, vorstellbar wird.  

Auch mit dem Wissen, dass es keine 1:1 Erfahrung werden wird. So, wie es mit Worten ebenso unmöglich ist, ein konkretes, ‚echtes’, vollständiges Bild zu erzeugen, das exakt der Wahrheit entspricht, sondern immer nur eine Idee dessen vermittelt. Die aber - je nach verwendeter Worte - näher oder weiter vom Original entfernt sein kann. Diesmal wusste ich ja, was ich zeigen konnte. Weil ich die Eindrücke bewusst im Kopf behalten habe, statt sie ‚wegzuwischen’. Was ich noch nicht wusste, war, wie ich das in die Bilder bringen konnte. Also habe ich experimentiert: Mittels verschiedener klassischer Techniken. Ob durch Overpainting, mit Wasserfarbe, durch Frottage, Decalcomanie. Aber ohne auch nur in die Nähe dessen zu kommen, was ich zeigen machen wollte.  

 

Willkommen in der Dualität  

Das ist mir erst gelungen, als ich mithilfe der Mathematik an die Sache gegangen bin. 

Und meine gewohnt verwendete fotografische Expertise bewusst habe ‚sterben‘ lassen: Indem ich das Fotografische komplett aus meinen Bildern entfernte. Indem ich Formen und Strukturen auf ein Minimum reduzierte. Und die Farben auf die Essenz der erlebten Farben Mexikos verdichtete. Indem ich dem ursprünglichen Bild das Leben entnahm, so dass nur noch eine Erinnerung an dieses vorhanden war. Aber dem Schwarz der Nicht-Existenz nicht das Bild überliess. Sondern auch dieses als nicht-sichtbares Teil-Element im Bild beliess. Mit einem Ergebnis, was mich zum ersten Mal zufriedenstellte. Die 22 (von insgesamt 88) hier auf art24 gezeigten Bilder der DUALITY Serie entsprechen exakt dem, was man im Jenseits sieht. Es sind keine Fotografien mehr. Aber sie dokumentieren diesen Ort wie Fotografien. Sie dokumentieren die Schönheit, Pracht und die Farben des lebendigen Mexikos - das Leben und den Tod in Mexiko. Aus dem Blickwinkel nach dem Leben. Von einer Person, die diesen Blickwinkel als ‚Augenzeuge‘ erlebt und überlebt hat. Im Diesseits zeigen sie nichts Klares, nichts Strukturiertes, nurmehr eine Erinnerung an etwas. Aber ebenso vermitteln sie auch ein Gefühl von purer Entspannung. Nichts, was einen aufregt, anspannt, nichts Lebendiges, aber absolut auch nichts Totes. Ein leerer unendlicher Raum, der völlig gefüllt ist. Nicht schwarz und nicht weiss. Nur die reine Dualität. Das, was ich gesucht habe, habe ich gefunden. Auch wenn es nur eine exakte Darstellung davon ist.  

 

Ende der Geschichte? 

Die Geschichte, die ich hier erzähle, spielt keine Rolle. Es ist nebensächlich, ob man sie wahrhaftig nimmt oder für ein Märchen, Hirngespinst oder was auch immer hält. Am Ende bekommt jeder die Gelegenheit, sie mit seiner eigenen Wahrnehmung abzugleichen. Ob das dann ein ‚wusste ich’s doch‘ oder ein ‚ach, hätte ich’s beim Lesen mal geglaubt‘ auslöst, ist dann nicht mehr von Bedeutung. Wohl aber hier, wenn es dazu beiträgt, die Angst vor dem Unvermeidlichen zu beseitigen, die Sorge, dass es geliebten Personen oder Lebewesen ‚drüben’ schlecht gehen könnte, zu nehmen und zumindest in Betracht zu ziehen, dass es weitergeht. Auch wenn das Leben beendet ist. Und dafür sind die Bilder ein Reminder. Ebenso wie dafür, das Leben zu nutzen, um es lebenswert zu gestalten. Für Mensch und Tier. Durch menschliches Tun und Handeln.  

Einen kleinen visuellen Eindruck von Teilen dieser Erfahrung teile ich hier mit allen. Hier im Blog auf art24, auf meinem art24-Profil, in den Produkten zu ‚Duality’, auf meiner Webseite, in der ich noch detaillierter als hier auf meine Erfahrung dort eingehe und auch eine musikalische Interpretation in Folge #9 gebe und überall, wo es mir möglich erscheint. Als digitale Ansicht auf dem Monitor oder dem Handy.  

DUALITY. MÉXICO. BETWEEN LIFE AND DEATH.  

 

Den Eindruck in seiner vollen Pracht teile ich in jedem, der auf 22 Exemplare limitierten Masterprints in voller Grösse (mit ihrer jeweils lange Seite von 180 cm.) Aber auch als Reproduktion in einer Open Edition im Format 35x45 cm auf Papier.  

Beide kommen der echten Erfahrung so nah, wie nur möglich. Aber selbst, wenn man nichts von der Geschichte hinter den Bildern weiss, und diese nur als reine Mittel zur Innenraumgestaltung nutzen will, spürt man einen Teil, der den Bildern innewohnenden Unendlichkeit des Jenseits und der damit einhergehenden Schönheit des Seins, hier im Leben. Und wenn dieses Gefühl einhergeht mit dem Wunsch, dieses Leben nicht nur für sich, sondern auch für andere zu verschönern, dann sehe ich meinen Job mehr als erfüllt an.