Die Begegnung mit Kunst. Eine Begegnung mit uns selbst?

23.01.2023
Yvonne Roos

Woran denkst Du beim Wort «Begegnung»? Lässt es Dich an ein Gegenüber denken oder an das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz? An Vertrautheit und Intimität? Und warum fühlen wir etwas, wenn wir Kunst betrachten? Dieses Blog-Format braucht Deine Beteiligung, liebe:r Leser:in! Was sind Deine Erfahrungen in der Begegnung mit Kunst? Wie hat dich Kunst bewegt, etwas gelehrt oder geschockt und warum? Erzähle uns davon, gerne publizieren wir dies in der neuen Blogserie «Kunstbegegnung». Der Blog soll damit selbst zu einem Ort der Begegnung werden, durch den Menschen sich austauschen, aufeinander und auf Kunst reagieren können. Schicke uns eine Mail an hello@art24.world mit Deiner Geschichte. Wir freuen uns auf Dein Erlebnis.

Was bewirkt die Begegnung mit Kunst?

Dieser Einleitungstext soll als Denkanstoss für Deinen eigenen Erfahrungsbericht dienen. Darin werden wir uns dem vagen, ambivalenten, dem stets diskutierbaren und dem Wandel der Zeit abhängigen Verständnis dessen annähern, was ein Kunstobjekt zu Kunst macht, um zu verstehen, warum uns die Begegnung mit Kunst berührt.

Die Begegnung mit Kunst war immer wieder Gegenstand philosophischer Auseinandersetzungen. Beim Philosophen Emmanuel Levinas hatte diese eine ambivalente Rolle. Meist sah er darin aber eine unzureichende Beziehung. Der Begegnung mit ihr fehle die Unmittelbarkeit, im Gegensatz zur Begegnung mit einem Anderen (vgl. Stähler 2007). Denn es sei bereits eine duale Beziehung in der Realität vorhanden; das, was die Realität ist und das, was ihr selbst ein Fremdes ist. Die Kunst bringe diese Beziehung bloss als dessen Schatten zum Ausdruck und entziehe sich uns dadurch. Sie kann für Levinas nie die «Realität» einfangen und bleibt dadurch ohne Zukunft, da sie lediglich die Vergangenheit wiederholt (vgl. Stähler 2007). Ist dies gerechtfertigt, oder hat Levinas etwas ausser Acht gelassen? Denn vermutlich tritt in keinem Phänomen der Realität die ganze Wahrheit in Erscheinung. Zeigt die Kunst nicht gerade durch das Abwesende die Vielfalt an möglichen Perspektiven und Seiten der Realität? Liegen darin gar die Parallelen zwischen der Begegnung von Mensch und Kunst und der zwischen Menschen? Und kann die Begegnung mit Kunst uns nicht sogar einige dieser «Wahrheiten» näherbringen, Realitäten enthüllen und uns ethische Antworten liefern? Levinas warf der Kunst nämlich auch vor, dass sie keine Ethik besitze. So würde etwa bei der Betrachtung von etwas Grauenhaftem der ästhetische Charakter der Kunst das Schreckliche bloss verschönern, also verharmlosen. Auch das Entfliehen in eine andere Welt durch die Kunst ist für ihn etwas Negatives, da wir dort nicht reflektieren, sondern nur über das Schöne staunen. Stimmt das? Kann uns ein Kunstwerk nicht auch aufrütteln, Dinge enthüllen und zum Reflektieren anregen? Und ist Kunst wirklich nur auf die Vergangenheit bezogen? 

Die «Aura» der Kunst

Wenn wir von Kunst reden, dann ist ihr «Schöpfungsakt» immer an eine Form, beziehungsweise an ein Medium gekoppelt, etwa Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, Grafik, Schrift, Sprache oder andere denkbare Erscheinungsformen. Doch was macht Kunst zu Kunst? Schliesslich werden auch ständig «normale» Alltagsgegenstände erzeugt. Dafür greifen wir auf Walter Benjamin (1892–1940) zurück, der den Begriff der «Aura» einführte. Das Wort soll ausdrücken, dass das Kunstwerk etwas Einzigartiges und Authentisches besitzt. Dieses Etwas ist aber schwer zu erfassen, weswegen der Begriff gefürchtet ist im erst jungen Fach der Kunstgeschichte, auch da Benjamin die Aura nicht wirklich definierte. In diesem Verschleierten/Schattenhaften der Aura sind aber Parallelen zwischen Benjamin und Levinas zu finden. Wie wird also eine Aura erzeugt, wenn wir Kunst betrachten, beziehungsweise wer oder was erzeugt sie? Benjamin ergründete die Aura in seinem Essay «Kleine Geschichte der Photographie» (1931). Sie ist etwas Nicht-Sprachliches, das in die hiesige Welt übertragen wird, etwas das von einem «Diesseits» in ein «Jenseits» transzendiert:

“Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.” (GS II, 387)

Das «sonderbares Gespinst» steht somit in Abhängigkeit von «Raum» und «Zeit» und ist dadurch ein vergänglicher Moment. Dies schliesst aber das Hier und Jetzt nicht aus. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet «Hauch», «Luftzug», «Wind». Die Aura hat also eine fühlbare Wirkung oder Ausstrahlung. Dieses Unsichtbare überträgt Benjamin durch die Beschreibung dessen, was er sieht, in diesem Fall die Natur, in die bildliche und sichtbare Vorstellung (imago). Neben der Sprache hat somit auch das Sehen einen Anteil an dem, was Benjamin Aura nennt. Das Spannungsverhältnis kommt somit daher, dass die unsichtbare Aura in ihrer ganzen Erfahrung an die Wahrnehmungsbedingungen gekoppelt ist und Bestandteil der sichtbaren Welt ist. Die Aura-Momente werden durch Sprache übertragen, vermittelt, reproduziert und somit erfahrbar. Die Aura ist damit an unsere Kognition gebunden, kann dadurch aus dem «Jenseits» ins «Diesseits» hinübergleiten und wird zu einer einzigen Erfahrung, für die der Mensch seinen Blick öffnen kann. 

Benjamins vage «Definition» hat den Vorteil, dass sich der Aura-Begriff öffnet und die Möglichkeit bekommt, vieles zu sein. So spricht er auch dem Unbelebten eine Aura zu, das durch das Anblicken erfahrbar wird. Ja, gerade erst durch den Blick entsteht ein Moment, in dem das Objekt belebt wird und erwacht, ein Augenblick, in dem das betrachtende Subjekt dem Objekt ein Zurückblicken zuspricht. Auch wenn das Objekt kein «Bewusstsein» hat, besitzt es offenbar etwas, das zurückwirkt und so zu einem Subjekt wird. Möglicherweise dadurch, dass sich das anblickende Subjekt im Objekt spiegelt. Die Aura ist also eine Erfahrung, welche zwar an einen Gegenstand gebunden ist, sich aber nie ganz identifizieren lässt. Gerade diese Distanz erzeugt ein Gefühl. Dem Menschen wird das Unerreichbare beim Betrachten bewusst, vielleicht auch das unerreichbare Rätsel seines eigenen Ichs? Das Kunstwerk besitzt somit etwas Religiöses, da es nie ganz greifbar, nie bestimmbar ist, aber stets an die Wahrnehmung und Wirklichkeit des Subjektes gebunden ist, wie auch an dessen Fantasie und den innersubjektiven Vorgang.

Erfahren des Sinnlichen durch den Blick 

Die Aura besitzt also sowas wie einen religiösen Charakter, etwas «Heiliges», das sich ausdrückt, das aber zugleich schützend dieses Unerklärliche bewahrt, eben dieses nahe Ferne, die sich als fremd wirkende und unnahbare Ausstrahlung zeigt. Wie Kant beschrieb, erschafft diese Distanz zum Schönen eine Bewunderung, die als Gefühl im Subjekt erfahrbar wird und sogar Furcht auslösen kann. Die Begegnung mit Kunst scheint uns zum Denken anzuregen. Ist Kunst gar Ursprung unseres Denkens (cognito)? Denn «Schönes» existierte schon immer. Auch bei Kant geschieht eine «sinnliche» Erfahrung, also eine Erfahrung, bei der wir von etwas affiziert werden, durch die Anschauung eines Gegenstandes. Folglich ist die Sinnlichkeit an das Denken, an unseren Verstand gebunden und damit auf unsere Erfahrung angewiesen. Unser Verstand ist umgekehrt auf die fünf Sinne angewiesen. Dies ermöglicht es uns, bei sinnlichen Erfahrungen Begriffe zu entwickeln oder zu verwenden. Kant nennt diese berührende Wirkung eines Gegenstandes auf unsere Vorstellungsfähigkeit «Empfindung» (vgl. Kant, KrV). Es findet also ein reziproker Austausch statt. So lautet die kantianische Schlussfolgerung denn auch: «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind» (Kant, KrV, A 51 = B 75). Das Auratische/das Schauerliche/das Heilige scheint also dadurch zu entstehen, dass uns die Worte fehlen, wenn uns etwas berührt. Wir können das Schöne nicht erfassen, die Erkenntnis bleibt gewissermassen begriffslos und damit unzugänglich. Dieses Ungewisse, diese Ruhelosigkeit scheint auch die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Gesellschaft auszulösen. Kunst, oder vielmehr die ästhetische Erfahrung, besitzt damit die Macht, uns zu verwandeln. Und zwar gerade dadurch, dass die sinnliche Erfahrung nicht richtig zu erfassen ist. Für Levinas ist die Wirklichkeit selbst etwas Traumartiges. Somit ist einzig die Wirkung/die Empfindung real und kann uns entsprechend verändern. Seine Haltung gegenüber der Kunst ist also nicht nur abweisend, wie eingangs gesagt wurde: «Es ist ein kreatives Vernehmen» (Bennke, 99), wodurch etwas sichtbar gemacht wird, das aber weiterhin Anteile des Unsichtbaren behält. Kunst ist also ein Verweisen, ein unauflösbares Phänomen: «Das Bild nimmt damit nicht nur eine mediale Stellung ein, es ist das Medium der Darstellung» (Bennke, 100). Und damit scheint Kunst die Ambiguitäten der Welt aufzuzeigen.

Ein Hauch des Jenseits

Die (Kunst)Erfahrung ist damit Resultat einer Interaktion, ein Dialog zwischen dem Menschen und seiner Umgebung. Das eine kann nicht ohne das andere entstehen. Der Dialog platziert sich in einem Zwischenraum, zwischen dem Du und dem Ich oder zwischen dem Du und dem Es, der durch die körperliche Trennung aufrechterhalten wird. Die Reaktion, die beim Gegenüber und bei uns ausgelöst wird, zwingt zur Selbstüberprüfung, zur Reflexion, zur Introspektion. Der Mensch erfährt dabei auch Bestätigung, in dem ihn etwas berührt, sei dies physiologisch oder psychologisch. Das Zurücktreten in die Gedanken, die Distanznahme, ist nötig, damit wir neu auf etwas blicken können, ähnlich einer Pendelbewegung (Martin Buber). Damit uns etwas berühren kann, ist das Wachsen von Vertrauen und Intimität durch Zeit und Erfahrungen notwendig. In diesem Prozess nähern wir uns der Komplexität des ständigen und nie endenden Rätsels an. In der Begegnung steckt somit ein Potential, etwas entsteht, eine Möglichkeit wird erforscht. Auch das Aushalten bestimmter Gefühle, besonders das Gefühl, welches durch die unvermeidbare Distanz entsteht, lässt uns das Rätsel anerkennen und befeuert gleichzeitig den Wunsch, es zu erforschen. 

Damit haben wir einen Versuch unternommen, zu ergründen, woher die Emotionen kommen, wenn wir Kunst betrachten. Entscheidend scheint das Verhältnis zwischen Distanz und Nähe zu sein, unsere Körperlichkeit, die Kognition, unser Blick und unsere Sinne. Und hier wird die Parallele zur zwischenmenschlichen Begegnung klar, wenn wir Kunst betrachten, welche durch die Erfahrung der Künstler:innen in das Kunstwerk eingehaucht wurde, die wiederum vom Gegenüber aufgenommen wird: «Einem Menschen begegnen heisst, von einem Rätsel wachgehalten zu werden», schrieb Levinas treffend. Einen anderen Menschen umgibt etwas, das wir als sein Gegenüber nie vollständig begreifen können, es bleibt schattenhaft, genau wie Benjamins Aura-Begriff. Doch bleibt Kunst laut Levinas deswegen ohne Zukunft? Denn Gefühle und Emotionen scheinen über die Zeit hinweg zu bestehen, können uns gar auf eine neue Art affektieren. Gerade dadurch beschäftigen wir uns mit der Zukunft, wodurch diese beeinflusst wird. Das Sein des Objekts verweist einerseits auf das Vergangene, entweicht aber auch ständig dem Wesen des Objekts. Somit weist die Bewegung des Seins auch in die Zukunft. Die unbegreifliche Distanz besteht also in beide Richtungen. Dieses Rätsel um das Wesen eines Objekts/des Selbst ist nicht darstellbar, entsteht aber nur durch die Begegnung mit dem Anderen oder mit dem Kunstwerk. Der Schatten, die Spur des Seins ist das Kunstwerk und berührt uns gerade deshalb. Dies scheint auch unser Antrieb zu sein, Kunst zu produzieren und sich durch die Begegnung berühren zu lassen, die Facetten des Rätsels zu erproben, auch wenn sich uns immer etwas entzieht.

Was löst die Begegnung mit Kunst also aus? Wir freuen uns auf Deine Gedanken, vielleicht auch deine Ergänzungen oder vielleicht auch einer Widersprache dieser zu ergänzenden Auslegungen.

 

Glossar:

ImagoDas Wort ist aus dem Lateinischen und bedeutet «Bild», «Abbild».

Cognito: Das Wort ist aus dem Lateinischen und bedeutet «Erkenntnis».

Reziprok: Der Begriff ist aus dem Lateinischen und bedeutet «wechselseitig».

Ambiguität: Das Wort ist aus dem Lateinischen und bedeutet «Mehrdeutigkeit». Ein Zeichen kann also mehrere Bedeutungen haben.

 

Weitere Literatur zum Nachschlagen:

Bennke, Johannes (2016). Zur Ethik Des Bildes Bei Emmanuel Lévinas. Figurationen (Hamburg) 17.1, S. 93–114.

Bündner, Alexandra und Beil, Ulrich Johannes (2014). Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin. Zürich: Chronos.

Crass, Michael. (2021). Was bedeutet der Begriff «Aura» bei Walter Benjamin?, https://affenspass.de/2021/08/05/was-bedeutet-der-begriff-aura-bei-walter-benjamin/#_ftn13, abgerufen am 06.12.2022.

«Gespinst», bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), <https://www.dwds.de/wb/Gespinst>, abgerufen am 06.12.2022.

Hansen, Miriam Bratu. Benjamin’s Aura, in: Critical inquiry 34.2 (2008), S. 336–375.