Ritzbilder Teil 1 – Kunst als Möglichkeitsraum
YR: «Judith, woher kommt die Idee in Bilder zu ritzen? Normalerweise ist dies doch streng verboten!»
Judith Roesli: «Vor langer Zeit erhielt ich den Auftrag, für einen Kunstliebhaber eine Glückwunschkarte zu kreieren. Das Papier und die neue Schachtel Wachsfarben brachten mich auf die Idee, ein Bild zu ritzen. Damals kratzte ich mit einem spitzen Küchenmesser die Figuren aus dem Wachs. Diese Arbeit machte mir Spass und der Beschenkte schätzte die Karte sehr. Eine Kopie davon legte ich in meinen Ideenordner. Sehr viel später, im Jahr 2018, lockte mich diese zum erneuten Arbeiten mit dieser Technik.»
YR: «Welche Materialien verwendest Du?»
Judith Roesli: «Anfangs benutzte ich Pappelsperrholz als Werkgrund. Dieses Holz ist eher weich und eignet sich gut zum Ritzen. Jedoch neigen die Platten gerne dazu, sich zu verziehen. Später wählte ich das stabilere, härtere, aber eben auch schwerere Birkensperrholz. Als weitere Materialien braucht es Acrylbinder und Acrylfarbe und/oder Farbstifte bis hin zu Pigment Liner, Wachsblöcke oder Wachspastell und ganz wichtig, die Radiernadel, die ich mit dem früher angewandten Kratzwerkzeug getauscht habe.»
YR: «Erzähl uns noch was zur Entstehung der Werke und über den Prozess.»
Judith Roesli: «Acrylbinder grundiert die Holztafel. Eine weitere Schicht wird – je nach Ritzsujet – mittels Acrylfarbe oder Farbstiften, bunt oder einfarbig, als Zeichnung geschaffen. Bienenwachsblöcke oder auch Wachspastelle bilden die letzte Schicht. Dann beginnt der Ritzprozess. Mit leicht stumpfer Radiernadel wird ohne Kraftaufwand, damit die Nadel das Holz nicht verletzt, in die Wachsschicht geritzt. Die Zeichnungen werden direkt, meist ohne Entwurf, vom Gedächtnis auf die Holztafel gearbeitet. Ein Detail ergibt das nächste, ein Detail wächst aus dem anderen, unaufhaltsam. Wenn man sich vorstellt, dass mit einer Berührung des Arbeitsinstruments nur ein kleiner Punkt entsteht, gewinnt man leicht die Erkenntnis, wie aufwendig und ausgesprochen zeitintensiv ein Bild entsteht. Bisher ist deshalb die Grösse der Holzplatten bei 30x30cm geblieben. Die vom Wachs befreiten Linien und Flächen erscheinen zweidimensional. Die verbleibenden Wachsbereiche treten jetzt dreidimensional auf.»
YR: Gibt es für Dich auch sowas wie eine symbolische Bedeutung, die sich in den Farben offenbart? Und wenn Du «loskratzt», hast Du da eine genaue Vorstellung, was für Strukturen Du in die Oberfläche ritzt, oder ergeben sich die Linien intuitiv und spontan?
Judith Roesli: «Meine Wahl der Farben erfolgt nicht nach symbolischer Bedeutung, obwohl ich das sehr interessant finde. Eher bestimme ich die Farben, die zur Stimmung der Geschichte des Bildes passen. Es gibt aber auch Bilder oder Skulpturen, bei denen ich während des Malens bewusst nicht harmonisierende Farben gewählt habe. Aber letztlich ergab sich trotzdem stets ein angenehmes Farbenspiel. Wenn ich ein Ritzbild mache, kommt es auf Themen an. Ich ritze eine Erzählung wie zum Beispiel “Alles begann im Palast”. Während ich die Geschichte ausdenke, ritze ich sie (anstelle sie aufzuschreiben) gleichzeitig in das Wachs. Andere Ritzbilder zeigen Sujets, die ich vorher kreiert habe.»
YR: Vielen Dank fürs Interview und Deine Zeit. Schön, dass Du bei art24 dabei bist.
Ausgehend von Judith Roesli’s Ritzbilder und dem Künstlerinnen-Interview mit ihr, hat sich art24 auf die Spuren des Verfahrens gemacht. Die sogenannte Grattage zeigt dabei auf aufdringliche Art und Weise die Grenzenlosigkeit der Kunst. Im ersten Teil erfährst du also, wie Judith Roesli arbeitet und woher das Verfahren kommt.
Hinweis: Fachbegriffe werden bei erstmaliger Erwähnung kursiv dargestellt und am Ende des Textes in einem Glossar erklärt.
Judith Roesli’s Arbeitsprozess des Kratzens
Die Art und Weise, wie Judith Roesli ihre Bilder kratzt, ist auf den ersten Blick vor allem aus grafischen Arbeitstechniken bekannt, beispielsweise das Einritzen einer Darstellung in eine Zinkplatte mittels Nadel. Durch das Einritzen in die glatte Oberfläche der Druckplatte gewinnt das Werk an Tiefe. Die entstandenen Einkerbungen werden anschliessend mit Farbe aufgefüllt. Danach wird die restliche Farbe abgewischt, ein Blatt und die geritzte Druckplatte werden zusammen durch eine Druckerpresse gelassen und der/die Künstler:in erhält eine erste (Kaltnadel-)Radierungsversion. Dabei werden, je nach Tiefe der geritzten Furchen und Linien unterschiedliche Intensitäten an Druckfarbe auf dem Papier hinterlassen, die der Abbildung Leben einhauchen.
Aber dieses grafische Verfahren ist nicht das, was Judith Roesli’s Werke ausmacht. Denn sie dringt Schicht für Schicht durch bereits aufgetragene Farben und legt damit Tieferliegendes frei. Ihre Ritzbilder werden auch nicht vervielfältigt, wie dies bei den Vorlagen der Druckgrafiken geschieht. Ihre Methode ist vielmehr mit der Bildhauerei zu vergleichen. Der oder die Bildhauer:in hat meist schon zu Beginn eine Idee vor Augen und beginnt mittels Skizzierungen auf dem Stein mit dem Abtragen des Materials. Nach und nach wird sichtbar, was sich im Stein «verbirgt» und somit auch die Vision und Geschichte hinter dem künstlerischen Schaffen. Judith Roesli’s Werke können somit als bildhauerischen Transformationsprozess beschrieben werden – die zweidimensionale Malerei wird dabei mittels eines bildhauerischen Verfahrens zu einem dreidimensionalen Objekt.
Zuerst trägt die Künstlerin Farbe auf die hölzerne Oberfläche, ähnlich wie bei einer Leinwand die Grundierung. Nachdem diese getrocknet ist, kommt eine weitere, gemalte Schicht hinzu. Dieses Schichten lässt bereits den nächsten Arbeitsschritt erahnen. Denn wie in der Plastik, wird zuerst eine Masse, hier die Farbe, aufgetragen, die vorerst flach bleibt und nicht geformt wird. Nun vollzieht sich eine gegensätzliche Transformation zum Auftragen: Die aufgeschichteten Farben werden wieder abgetragen. Und hier wird die Künstlerin Judith Roesli von der Malerin zur Bildhauerin. Dadurch legt sie in einem und demselben Werk offen, was sich darin wortwörtlich verbirgt; und zwar nicht bloss im Sinne einer metaphorischen oder zweidimensionalen Ebene, die in der Malerei normalerweise eine Raum- und Körperillusion kreiert. Nein, die Tiefe im Bild, die durch das Abtragen gewonnen wird, eröffnet eine dritte Dimension: Aus der Malerei wird eine Skulptur, die damit eine räumliche und körperliche Dimension annimmt. Das Kunstwerk ahmt diese Komponente also nicht mehr bloss nach.
Die Grattage und ihr «Erfinder» Max Ernst
Der «Erfinder» dieser Ritztechnik, der sogenannten Grattage (von franz. «gratter» = «abkratzen»), war der deutsche Expressionist Max Ernst. Bei diesem speziell für die Ölmalerei entwickelten und aus der Frottage (von frz. «frotter» = «(ab)reiben») abgeleiteten Verfahren werden übereinanderliegende Malschichten abgetragen, wodurch neue Farben und Formen entstehen. Dafür legte Ernst Gegenstände wie Schnur, Metallgitter oder groben Stoff unter die Leinwand, welche er dagegen presste, um die jeweilige Form und Textur auf der Leinwand sichtbar zu machen (vgl. Newman 2018, S. 15–16). Durch diese Kombination der Frottage und des Übermalens mit mindestens zwei Malschichten (vgl. Newman 2018, S. 9–10), konnte Ernst Abdrücke realer Formen auf den Malgrund übertragen und erzeugte eine reliefartige Struktur und Tiefe in der Leinwand. Dabei setzte sich also eine reale, existierende Spur von etwas auf der Leinwand fest. Anschliessend kratze Ernst die Farbschichten wieder ab, so dass nun auch die Farben darunter wieder sichtbar wurden. Die Ritzungen hinterliessen damit ein weiteres Muster, das durch die jeweilige Tiefe, einerseits durch die Malschichten, andererseits durch die reliefartige Frottage-Abdrücke, definiert wurde, wie auch durch die darunter auftretenden Farbmusterungen. Ernst stellte also durch die Kombination verschiedener Techniken Dreidimensionalität auf einer flachen Oberfläche her; durch die Frottage, durch die Malschichten und durch das Abtragen der Farbe. Bezeichnend für diese Technik ist sein Werk «Die ganze Stadt» von 1935/36, in welchem er seiner Faszination für den Wald und für die Romantik-Bewegung nachging.
«Max Ernst laid his canvas over various objects with raised textures – pieces of wood and string, grates, textured glass panes – and, drawing the paint over them with a palette knife, brought forth the most vivid effect.» (Spies 1991, S. 148, dt. «Max Ernst legte seine Leinwand über verschiedene Gegenstände mit erhabenen Strukturen – Holzstücke und Schnüre, Gitter, strukturierte Glasscheiben – und zeichnete die Farbe mit einer Spachtel darüber, um die lebendigste Wirkung zu erzielen»)
Ernst erprobte mittels der Grattage also ungewöhnliche Muster und Formen auf der Leinwand-Oberfläche. Dadurch gelang es ihm, seine Kompositionen durch die überraschenden Strukturen, welche sich offenlegten, in etwas Neues und Mystisches zu verwandeln. Diese Strukturen verwiesen zugleich aber auch auf etwas Vertrautes, den durch den Bezug zu etwas real Existierendem, wurde automatisch auch ein lebhafter Eindruck erzeugt. Die Werke wurden einerseits abstrahiert, andererseits rückten aber Muster und besonders die Farben in den Fokus, die sich anfänglich noch unter der obersten Malschicht verbargen und somit wurde das verfremdete, abstrahierte Element wieder zu etwas Lebendigem. Die Farbe trug dabei etwas Organisches und eine symbolische Kraft mit sich. Diese symbolische Bedeutung von Farbe und ihre Beziehung zur Natur interessierte Max Ernst (vgl. Wilhelm 2020, S. 23). Die Grattage bot ihm die Möglichkeit, sich mit Farben auseinanderzusetzen. Die Strukturen der Gegenstände und die darunterliegenden Farben inspirierten ihn, Dinge zu sehen, die er mit der Natur verband, die aber auch das Unbewusste und das von der Norm Abweichende darstellten. Die vorgegebenen Texturen und Ebenen definieren bei Max Ernst also das Werk. Trotz des bewussten Handelns und Entscheidens, also durch den Akt des Auswählens und des Rekombinierens der Ritzstellen oder der Gegenstände, erlaubte die Grattage ihm gleichzeitig Raum für das Unbewusste in seinem Arbeitsprozess, in dem er seiner Intuition folgen konnte, etwa beim Ritzen selbst oder in dem er sich durch die unerwarteten Strukturen der Abdrücke inspirieren liess.
Erfahre mehr über die Technik des Kratzens im 2. Teil des Blogs
Glossar Teil 1:
(Kaltnadel-)Radierung: Die Radierung ist ein grafisches Tiefdruckverfahren, das in der Druckgrafik angewendet wird. Dabei werden auf einer glatten Oberfläche mithilfe einer Radiernadel Punkte oder Linien eingeritzt. Bei einer Kaltnadelradierung wird mit einer Nadel aus hartem Stahl direkt auf der Druckplatte gearbeitet. Die Platte ist dabei meist aus Kupfer, Zink, Messing oder Eisen.