Kunstbegegnung: Es sind Bilder von Menschlichkeit, von Kultur und Identität- Ein sehr persönlicher Blick auf Verena Kandlers Kunst.

28.02.2023
Max Kretschmann

Seit vielen Jahren kenne und schätze ich die Arbeiten der bayrischen Künstlerin Verena Kandler. Das erste Mal habe ich ihre Bilder bei einer Sammelausstellung in Augsburg 2015 bewundern dürfen und war seitdem bei fast jeder Gelegenheit vor Ort, wenn sie ihre neuen Kunstwerke präsentierte. Dementsprechend kann ich ihr Werk gut in einem zeitlichen Kontext einordnen und von mir behaupten, sie auch persönlich sehr gut zu kennen. Wenn ich daran zurückdenke, wie ihre Bilder vor etwa sieben Jahren gewirkt haben und wie sich ihr Stil im Laufe der Zeit gewandelt hat, fasziniert mich, wie sie sich dabei stets eine Eigenwilligkeit bewahrt hat, die jedes ihrer Bilder auch ohne ihr markantes Monogramm als «einen echten Kandler» auszeichnet. 

Manchmal habe ich das Gefühl, dass Verenas Bilder die Menschen spalten: Manche wünschen sich den melancholischen Stil ihrer Anfangstage zurück, während andere die Expressivität der letzten Jahre begrüssen und als Festigung ihrer Ausdruckskraft sehen. Ich persönlich bin der Meinung, dass es weniger der jeweilige Stil als die Bilder selbst sind, die bei den Betrachtenden ganz persönliche Facetten ihrer Psyche ansprechen. Verenas Kunst geht unter die Haut, wird von manchen als unheimlich oder sehr skurril beschrieben und weckt trotz leuchtender Farben und teils amüsanter Motive manchmal ein Unbehagen, das sich gar nicht so leicht beschreiben lässt. Ihre Bilder scheinen eine Kraft zu haben oder hervorzurufen, die den/die Betrachtende/n aus dem eigenen Unter- und Unbewusstsein emporquillt. Damit lässt sich meiner Meinung nach erklären, warum viele Menschen mit denen ich auf Ausstellungen gesprochen habe, so unterschiedliche Vorlieben unter ihren Werken haben. Auch ich habe natürlich meine ganz eigenen Favoriten unter ihren Bildern, von denen ich nun drei Stück aus dem Jahr 2022 auf mich als Person wirken lassen möchte.  

Zunächst ist da das kleinformatige «Geistermaterial» (2022), das 2022 bei verschiedenen kurzen Ausstellungen zu sehen war, aber angesichts ihrer sonst eher grossformatigen Bilder möglicherweise ein wenig untergegangen ist. 

 

Wie viele ihrer neueren Werke, wurde ein Stück PVC Plane als Grundlage gewählt und die Malerei mit diversen Fundstücken collagiert. In diesem Fall scheint mir die Wahl des Untergrunds jedoch besonders gelungen. Die orange-rote Kreisfläche auf dem gelblich matten Hintergrund weckt in mir Assoziationen einer Ur-Sonne und versetzt mich zusammen mit den Blau-, Weiß und Goldtönen in eine altägyptische Szenerie.  

In einem Ausstellungstext beschreibt Verena die Hauntology als Quell der Inspiration für dieses Werk. Dabei handelt es sich um eine geisteswissenschaftliche Forschungsrichtung, die sich auf wiederkehrende Elemente der Kulturgeschichte bezieht und ihnen ein geisterhaftes Weiterleben attestiert. Die Farbwahl, der Hintergrund und auch die inhaltliche Assoziation deuten mir die Altorientalen Wurzeln unserer Kultur, die auf alle unsere Lebensbereiche einwirken, vom «Amen» bis zum Alphabet.  

Der Figur in blau wird von dem Geist auf seinem Rücken ein zerbrochener Spiegel vorgehalten und damit die eigene fragmentarische Kulturgeschichte vor Augen geführt. Was mich nun besonders begeistert, ist die verspielte und gewitzte Art, in der der Geist gestaltet ist. Die halbgeschlossenen Augen aus Teelichtern wirken wie aus einem Comic und verleihen der Geisterfigur etwas Heimtückisches oder Schelmisches. So fühle ich mich an einen Trickster erinnert, der der blauen Figur Wissen und Wahrheit einflüstert, aber sie genauso gut hinters Licht führen könnte. Seinem blauen Gegenüber scheint dabei das Gesicht zu schmelzen und dementsprechend die eigene Konstruktion von kultureller Identität. Dass die Auseinandersetzung mit Kultur oft Tücken und voreilige Schlüsse nach sich zieht, kommt damit genauso gut zum Ausdruck, wie dass eine solche Beschäftigung auch Vorurteile und versteinerte Moralvorstellungen zum Schmelzen bringen kann. Das „Geistermaterial“ ist somit ein zweischneidiges Schwert, eine abstrakte und kontrastierende Darstellung von Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit kulturellen Themen.  

Ein Stichwort, dass mir beim Betrachten von Verenas Kunst manchmal durch den Kopf geht, ist Animismus. Gemeint ist damit eine beseelte Umwelt: Pflanzen, Tieren und Gegenständen wird ein innewohnender Geist zugesprochen und damit gewissermassen auch ein Agens. Ein grandioses Beispiel dafür scheint mir Verena Kandlers «Gelbes Haus» (2022), das gerade als eines der wenigen eigenen Bilder in ihrem Wohnzimmer hängt. 

 

Bei einem Besuch im warmen Nachmittagslicht wird die durchsichtige Plexiglasscheibe, die als Untergrund dient, durchleuchtet und die Farben erstrahlen wie in einem Kathedralenfenster. Während das Bild bei Nacht künstlich von unten angeleuchtet wird und im Schattenspiel seine Konturen neu formt.  

Im Zentrum des Werks steht eine Figur mit Ranken und Blättern als Gliedmassen, eine Art Naturgeist, dessen Oberkörper und Kopf als Buntstiftzeichnung auf einem gelben Karton aufgetragen ist, der wiederum auf dem Plexiglas klebt. Am oberen Bildrand erhebt sich eine Spitze Form, die an ein gotisch anmutendes Kirchenfenster erinnert. Doch wo die Kirche das Haus Gottes ist, ist dieses gelbe Haus unserer transformierten, menschlichen Natur gewidmet. Darstellungen von Augen, Astlöchern, Blättern und Ästen finden eine Harmonie mit der Künstlichkeit der verarbeiteten Gegenstände und einem QR-Code, der auf Verenas Website führt. Oft findet die Natur in Kunst und Kultur eine geheiligte Kontrastdarstellung zu den Sünden der Menschlichkeit, womit einem klischeebehafteten Ruf nach Rückkehr zur Natur Folge geleistet wird, der bestenfalls als «scheinheilig» gelten kann. Tatsache ist, dass alle menschlichen Naturdarstellungen, wenn nicht arbiträr, künstlich oder aufgesetzt, so doch auf alle Fälle von unserer eigenen Wahrnehmung eingefärbt sind. «Gelbes Haus» bedient einen ehrlicheren Ansatz: Das Konzept von Natur wird zwar personifiziert und beseelt, andererseits erfahren auch die menschlichen Erzeugnisse einen solchen Ansatz und werden animiert. So auch das Bild selbst, wenn es von wechselnden Lichtverhältnissen durchleuchtet wird und damit ein Eigenleben entwickelt. Nicht nur eine beseelte Natur steht im Fokus, sondern auch eine beseelte Menschlichkeit. Dementsprechend wird der philosophische Gegensatz von Natur- und Kulturkonzepten in einem harmonischen Lichtspiel aufgelöst, in dem sich Verpackungsmaterialien nicht scheuen ihre goldene Schönheit zu zeigen oder in einen Naturgeist verwoben zu sein. 

 

Wer im Sommer 2022 mit der U-Bahn zur Münchener Universität LMU gefahren ist oder diesen Halt genutzt hat, um das schöne Wetter im Englischen Garten zu geniessen, der hat mit etwas Glück Verena Kandler bei der Arbeit beobachten können. Denn Verena hat den Ausstellungszeitraum der U-Bahn Galerie der Max-Vorstadt in München genutzt, um ihren Schaffensprozess in die Öffentlichkeit zu tragen. Viele der Materialien kamen von vor Ort und die PVC Planen, die sie als Untergrund verwendet hat, waren ausrangierte Banner der Alten Pinakothek. Dabei ist «Standpunkt (TECH NO BODIES)» (2022) als eines von zwei grossformatigen Bildern entstanden. 

 

 Wenn man sich das Werk lediglich auf Verenas Website ansieht, wird man kaum bemerken, mit wie viel Akribie sie eine geradezu enorme Menge von Fundgegenständen aus der Max-Vorstadt in das 160x130 cm grosse Bild eingewoben hat. Anders als bei den vorherigen Bildern, die ich oben beschrieben habe, hat der PVC Untergrund bei «Standpunkt (TECH NO BODIES)» bereits ein Motiv: Die Vergrösserung eines Schuhs aus einem barocken Gemälde, das in der Alten Pinakothek betrachtet werden kann. Nun interessiert mich weniger das originale Werk, als das, was Verena aus diesem Ausschnitt gemacht hat.  

Wie bei «Gelbes Haus» scheint der Schuh ein Eigenleben zu führen und blickt aus stechenden Augen gefährlich wie ein Krokodil auf die Betrachtenden. Wie Schuppen bedecken die z. T. skurrilen Fundstücke den Schuh und verleihen ihm einen Panzer aus unerwünschter Menschheit. In einem Text zu diesem Bild betont Verena einen neo-archäologischen Ansatz, der die als «Abfall» verworfenen Gegenstände als archäologische Fundstücke der allerjüngsten Vergangenheit betrachtet und aufwertet. Nun könnte man dieses Bild als eine Sozialkritik auf unser Konsumverhalten und unsere Wegwerfgesellschaft wahrnehmen. Doch sehe ich darin auch die Spuren unserer Kultur, die wiederum wie Schuppen von uns abfallen, ob wir sie nun mögen oder nicht. Denn gleicht nicht jedes Fundstück, das eine zukünftige Zivilisation aus unserer Zeit der Massenproduktion finden möge, einem unserer Fussabdrücke und trifft damit eine Aussage über unsere Identitäten? 

 

Wenn manche Menschen Verenas Bildern etwas Unheimliches zuschreiben, dann kann ich es bei «Standpunkt (TECH NO BODIES)» am besten verstehen. Denn der Schuh blickt mir mit einer enormen Kraft in die Seele und wirft mich auf die peinliche Körperlichkeit zurück, mit der mein Leben verbunden ist. All die Gegenstände, die ich tagtäglich benutze, um kein Tier zu sein, Dinge, die ich von mir stosse, haben in diesem Bild ein Agens bekommen und scheinen mir handlungsbereit – zu einem Rückschlag? Ja, ich denke es ist die Angst vor einer beseelten Rache der unbelebten und belebten Masse, die uns aufstösst und ein Gefühl von Schuld hervorruft, dass zu verdrängen man sich im Alltag allzu sehr bemüht. Und es ist ja auch alles schön sauber und hygienisch, solange man nicht mit dem eigenen Müll konfrontiert wird. Doch Verena hat mit «Standpunkt (TECH NO BODIES)» der Max-Vorstadt von München für einen Monat eine sehr unbequeme Inkarnation ihrer eigenen Menschlichkeit vor Augen geführt und damit meiner Meinung nach einen Geniestreich geleistet. 

Nun hiesse dieses Bild nicht so wie es hiesse, wenn es nicht etwas mit dem Standpunkt auf sich hätte. Und hierin bemerke ich wiederum, wie persönlich eingefärbt meine Betrachtungen zu den Bildern sind. Denn wie bei der Mona Lisa kommt es auf den Standpunkt oder den Blickwinkel an, mit dem man das Bild betrachtet und schon verändert sich der Blick des allzu lebendigen Schuhs. Verena selbst hat mir einmal gesagt, dass sie den Blick der Figur als melancholisch einstuft und tatsächlich, vom richtigen Winkel nehme auch ich diese Stimmung war. Doch ist es gerade das, was mich an Kunst reizt (und bei Verena Kandler im Besonderen): Das Spiel von Assoziationen und Triggern, von Gefühlen, die ein Werk auslösen kann und wie verschieden diese bei den Betrachtenden sein können.  

 

Anmerkung: Würdest Du auch gerne Deine Erfahrungen und Eindrücke in der Begegnung mit Kunst mit uns und der art24 Community teilen? Dann kontaktiere uns gerne per Mail hello@art24.world. Der Einführungstext zur Rubrik «Die Begegnung mit Kunst. Eine Begegnung mit uns selbst?» könnte Dir ebenfalls als zusätzliche Inspiration dienen.

Glossar: 

Agens: Aus dem Lateinischen «agere», was «treibend», «handeln» bedeutet. Damit gemeint ist ein «wirkendes, handelndes, tätiges Wesen oder Prinzip» (nach DWDS). 

Bildnachweis:

Bild 1: Geistermaterial, Verena Kandler, 2022, Acrylfarbe, Kunststoffverpackungen und Papier auf gespanntem PVC-Banner, 55 x 55 x 3 cm, Foto: Verena Kandler.

Bild 2: Verena Kandler vor ihrem Werk «Gelbes Haus» (2022), Foto: Verena Kandler.

Bild 3: Gelbes Haus, Verena Kandler, 2022, Hinterglasmalerei + Collage (Acrylfarbe, Kunststoffverpackungen, Papierkarton und Stoff auf Plexiglas), 100 x 70 cm, Foto: Verena Kandler.

Bild 4: Verena Kandler und Max Kretschmann vor dem Werk «Spektrum (Blickgewitter)» (2022), Foto: Georg Fleischer.

Bild 5: Standpunkt (TECH NO BODIES), Verena Kandler, 2022, Mixed Media, 160 x 130 x 3 cm, Foto: Verena Kandler.

Tiltebild: Verena Kandler und Max Kretschmann vor dem Werk «Spektrum (Blickgewitter)» (2022), Foto: Georg Fleischer.