Leonor Fini - Die surrealistische Legende

22.09.2022
Martina Kral

Keine Frage, Namen wie Salvador Dali, Max Ernst, René Magritte oder Joan Miró sind schnell in unseren Köpfen, wenn wir an die Stilrichtung Surrealismus denken. Eher zögerlich, wenn überhaupt, fallen Namen weiblicher Vertreterinnen: Frida Kahlo, Meret Oppenheim, Dora Maar oder Leonora Carrington. Obwohl diese Künstlerinnen in ihrer Zeit erfolgreich waren, wurden sie häufig nach ihrem Tod von der (männlich geprägten) Kunstgeschichte vergessen, bewusst verdrängt oder ganz ausgeblendet. Wie Leonor Fini, die einstige Legende des Surrealismus, die noch immer im Schatten ihrer Künstler-Kollegen steht. 

Paris, Juli 1923: Handgemenge im Théâtre Michel. Die Schriftsteller Louis Aragon, André Breton und Benjamin Péret stürmen die Bühne, greifen Schauspieler an. Der Grund ist ein mittlerweile öffentlich ausgetragener, jahrelang schwelender Zwist zwischen dadaistischer und surrealistischer Bewegung. Der Vorfall leitet die endgültige Abspaltung und Stärkung des Surrealismus ein. Den Begriff prägte der Dichter Guillaume Apollinaire bereits 1917.  

Paris, Oktober 1924: André Breton, Mitbegründer des Surrealismus, veröffentlicht sein erstes Manifeste du Surréalisme, das sich an Sigmund Freuds psychoanalytischen Studien und Giorgio de Chiricos «metaphysischer Malerei» orientiert. Damit wird das «neue Denken» für Literatur, Kunst, Film und Politik in Stein gemeisselt. Dem Unbewussten, Traumhaften, Übernatürlich-Mystischen, Irrationalen wie Phantastischen wird in spontanen und ungesteuerten kreativen Prozessen (Ecriture automatique) oberste Priorität eingeräumt. Es gilt – wenn nötig mit Rauschmitteln – das Bewusstsein und die Vernunft zugunsten von Trance, Schlaf oder Traumprotokollen auszuschalten, um Ängsten, Sehnsüchten, Visionen und Begierden zensurlos freien Lauf zu lassen. In den nächsten Jahren erweitert sich dieser illustre Kreis mit zumeist männlichen Kollegen (etwa Pablo Picasso, Alberto Giacometti). Dass Künstlerinnen wie Valentine Hugo (1887–1968) bereits ab 1926 voller Enthusiasmus im surrealistischen Zirkel wirken, ist eher eine Ausnahme. Weitere Jahre vergehen, bis weibliche Kunstschaffende um und vor allem nach 1930 dem Surrealismus in seiner zweiten Phase begegnen – zunächst als Freundinnen, Ehefrauen, Modelle oder Musen, ehe sie sich als Künstlerinnen auf diesem Gebiet behaupten und etablieren (können). 

Paris 1937: Eine junge Künstlerin aus Italien trifft ein. Ihr Name: Leonor Fini, geboren 1907 (oder 1908) in Buenos Aires, aufgewachsen in Triest, seit Ende der 1920er Jahre in Mailand als Porträtmalerin tätig, mit der ersten Ausstellung 1929 öffentlich bekannt und dem Maler Giorgio de Chirico in Freundschaft verbunden. Ihre Erscheinung und Persönlichkeit zwischen Maskierungen und Verkleidungen ist auch für die Pariser Kunstszene spektakulär und bald schon zählen Max Ernst, Man Ray, Salvador Dalí oder Georges Bataille aus dem inneren Kreis der Surrealisten zu Finis Freunden. Zu autoritären Regeln und Gesetzen, die André Breton in seinem Manifest aufstellte, geht die Autodidaktin allerdings selbstbewusst in Distanz. Eigensinnig und unangepasst realisiert sie individuelle kreative Ideen. Auch dann, als Fini an grossen Ausstellungen der Surrealisten mehrfach teilnimmt, kommt eine Mitgliedschaft für sie nicht in Frage. Zu sehr liebt die Künstlerin Unabhängigkeit und bewahrt ihren unverwechselbaren autonomen Stil, Zeit ihres Lebens, als hoch dotierte Malerin, Illustratorin, Bühnen- und Kostümbildnerin. 

Nach schwierigen Kriegsjahren in Mailand und Rom wohnt Leonor Fini ab 1945 wieder in Paris. Der Mythos um ihre imposante Erscheinung, die opulente Auftritte liebt, ist ungebrochen. Die exzentrische Künstlerin und Katzenverehrerin, die zeitweise mit bis zu 17 Katzen zusammenlebt und in diesen Tieren Vermittlerinnen zwischen Mensch und göttlicher Sphäre sieht, wird selber zur zwitterhaften, androgynen Kunstfigur, die Leben und Kunst nicht voneinander trennt. Das eine fliesst ins andere über. Bereits als Kind wird sie von der Mutter als Junge verkleidet, um weitere Entführungsversuche des Vaters zu verhindern. Das Hineinschlüpfen in verschiedene Geschlechterrollen und das Verstecken hinter Maskierungen wird typisch für Fini, die die Welt als üppige, barocke Bühne sieht und lebt – widergespiegelt in phantastischen, mitunter erotisch aufgeladenen Figuren, unerklärlichen Szenerien und beängstigenden Handlungen, die sich in ihren Bildwerken ausbreiten. Der Surrealismus erfährt eine Neuausrichtung und wird um viele Facetten bunter. 

Bereits zu Lebzeiten erhält Leonor Fini hohe Auszeichnungen in Form von internationalen Ausstellungen in ganz Europa sowie Publikationen, an denen sie sich häufig beteiligt. Auch nach ihrem Tod 1996 in Paris beleuchten Retrospektiven und Gruppenausstellungen ihr künstlerisches Schaffen (z. Bsp. Schweden, Bildmuseet Umeå 2014; New York, Museum of Sex 2019; Frankfurt, Schirn Kunsthalle 2020). Es ist zu hoffen, dass weitere zukünftige Ausstellungen wie die derzeit hochkarätige Show «Surrealism and Magic» in Venedig (Peggy Guggenheim Collection, bis 26.9.2022) der einstigen legendären Surrealistin und ihren Kolleginnen vermehrt den roten Teppich ausrollen.