Magie, Mythos, Fantasie - der Surrealismus in der Kunst und seine Nachwirkungen bis heute

10.11.2022
Martina Kral

Nun schien alles möglich. In der Vermischung von Vision, Magie und Fantasie, Traum und Unterbewusstsein mit der sichtbaren, erlebbaren Welt eröffneten sich in der Kunst unzählige Möglichkeiten. Fokussiert auf die Schaffung einer «Über-Wirklichkeit», einer absoluten Welt «über dem Realen» in Ablehnung traditioneller Kunstrichtungen entwickelte sich in Paris um 1920 in Literatur, Film und Kunst die avantgardistische Strömung des «Surrealismus», dessen Faszination bis heute ungebrochen ist. 

Geflügelte Wesen, mystische Gestalten, apokalyptische, geheimnisvoll-magische Landschaften, groteske, bedrohliche, widersinnige Situationen, undefinierbare Symbole, erotisch aufgeladene Zeichen: Surrealistische Bilder sind so vielfältig wie ihre Erschaffer:innen und deren persönlichen Erfahrungen und Vorlieben. Auch wenn die Ablehnung jeglicher Vernunft und Erklärung, die Abnabelung von traditionellen Kunstströmungen, der Protest gegen bürgerliche Spiessigkeit oder die Erweiterung des Bewusstseins durch Rauschmittel und Hypnose für eine Definition von Surrealismus hilfreich sind, kennt die «überwirkliche» Bilderwelt unzählige Abstufungen, Ausprägungen und Nuancen. 

Was liegt hinter der sichtbaren Welt verborgen, das nur gedanklich erfassbar ist? Was verbirgt sich unter der Oberfläche von Dingen, die uns umgeben? Ist die Welt tatsächlich so wie wir sie wahrnehmen? Solche und ähnliche grundsätzliche Fragen, die über Jahrhunderte hinweg Philosophen wie etwa die Überlegung von Anaxagoras «Die sichtbaren Dinge bilden die Grundlage der Erkenntnis des Unsichtbaren», Platons Schrift Über die Seele (ca. 335-322 v. Chr.) oder Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft von 1787, zu spannenden Erkenntnissen und Erklärungen herausforderten, interessierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Kunstschaffende. Die Zeit war reif für Strömungen wie der gegen 1880 entstandene Symbolismus, der sich in seiner radikalen Abwehr von Realismus und Naturalismus neuartigen Themen zuwandte, bei denen Gefühle, Träume, Ängste, aber auch Unbewusstes, Imaginäres eine wichtige Rolle spielen durften. Die Zeit war aber ebenso reif für Okkultismus und Spiritismus (vgl. Werke von Hilma af Klint, schwedische Pionierin der abstrakten Malerei) wie für das 1899 erschienene Buch von Sigmund Freud Die Traumdeutung und für Kunstschaffende um und nach 1910, die auf der Spur der «geistigen Dimension» der Kunst waren. Darunter etwa Wassily Kandinsky (Über das Geistige in der Kunst, 1911), die Gründer der metaphysischen Malerei 1917 (Pittura metafisica), Giorgio de Chirico und Carlo Carra mit ihrem Bestreben jenseits der Dinge die Wirklichkeit aufzuzeigen oder Paul Klee, der viele Jahre vor der offiziellen Gründung des Surrealismus formulierte: «Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar» (Schöpferische Konfession, 1918). 

Auf diesem mannigfaltigen, fruchtbaren Nährboden konnte der Surrealismus, um 1920 in Paris entstanden und vier Jahre später von André Breton im ersten Manifest theoretisch verankert, gedeihen. Fantasien, Visionen, (Alp-)Träume, Geheimnisse, Abgründe der menschlichen Seele, Begierden und Leiden wurden für Kunstschaffende im surrealistischen Umfeld zu zahllosen Inspirationsquellen, die sie in verstörende, widersinnig-irrsinnige, mysteriös «überwirkliche» Werke, ab und an mit autobiografischen Anspielungen, verbildlichten. Mögen heutzutage Namen wie Salvador Dali, René Magritte, Max Ernst oder Yves Tanguy als Vertreter des Surrealismus vordergründig geläufig sein, stehen die einstmals erfolgreichen und mit der surrealistischen Szene verknüpften Künstler:innen wie Leonora Carrington, Leonor Fini, Dorothea Tanning, Remedios Varo oder Victor Brauner zu Unrecht im Abseits. Zum Glück widmet sich auch ihnen die breit angelegte Ausstellung «Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne» im Museum Barberini in Berlin (bis 29.1.23) und macht die facettenreiche Vielfalt dieser faszinierenden Kunstströmung deutlich.

Dass die enorme Strahlkraft des Surrealismus weit über Frankreich hinaus ab den 1920er Jahren bis heute wirksam ist, mögen einige exemplarisch ausgewählte internationale Künstler:innen und ihre Werke verdeutlichen, die jeweils dem individuellen Seelenleben folgen:

Schon früh wurde der Franzose Félix Labisse (1905-1982) aufgrund seiner fantasiereichen, mitunter erotischen Bilder mit fliessenden Grenzen zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und fantastischer, überwirklicher Ebene dem Surrealismus zugerechnet. Der auch für Film, Theater, Design und Tanz arbeitende Labisse, u.a. mit René Magritte und Max Ernst befreundet, war eine schillernde Persönlichkeit. Sein Leben verfilmte 1947 der Filmregisseur Alain Resnais.

Alberto Depietri (*1928) erschafft Bilder voller Wehmut und Melancholie, die in ihrer Auffassung an metaphysische Bilder von Giorgio de Chirico erinnern. Der italienische Künstler vermischt Vergangenheit, Gegenwart und Traumwelt und zeigt mit exakt und detailgetreu wiedergegebenen Motiven wie wichtig ihm der perfekte Umgang mit malerischen Techniken ist. 

Der Schweizer Maler Paul Raclé (1932-2019), der bereits als Teenager Werke des Surrealisten Salvador Dali kopierte, feierte 1958 seine erste erfolgreiche Ausstellung in Zürich. Ab jener Zeit interessierte sich Raclé wieder zunehmend für surrealistische Vorbilder, die er mit Anleihen aus dem phantastischen Realismus vermischte, bis er Werke mit traumartig-visionären Inhalten malte, die an den Bündner Künstler, Szenen- und Kostümbildner u.a. für “Alien”, H. A. Giger, denken lassen. 

Mit dem Schweizer Künstler Maximilian Hilpert betreten wir eine weitere ganz individuelle, einmalige surrealistische Welt voller magischer, mystischer wie absurder Nuancen. Dabei bleibt er stets der figurativen Malerei verpflichtet, die in ihrem Detailreichtum zu vielfältigen Geschichten und Assoziationen herausfordert. Wie Hilpert einmal selber formulierte, war er «infolge ständigen Aufenthaltes im Ausland viel zu wenig bekannt in der Schweiz». Schade, denn der Zauber seiner Werke ist nach wie vor ungebrochen.

Für den zeitgenössischen, in der Zentralschweiz lebenden, philosophisch inspirierten Künstler Minò ist das intuitive, aus sich “herausfliessende” Malen wichtig (“Ich bin ein reiner Gefühlsmaler, dem Farben existentiell sind”). Damit lässt er expressive Seelen-Landschaften, feinfühlig-poetische Traumwelten und -gespinste entstehen, die in ihrer zeitlosen Art die Betrachter:innen zu individuellen Gedanken und Interpretationen anregen, sie abheben oder abtauchen lassen - je nach eigener Fantasie.

Hauptsache weit weg von jeglicher Vernunft.