Crossover #1 Was hat Kunst mit Medizin zu tun? Gedanken des Arztes Sandro über Medizin und Kunst

06.03.2023
Sandro Fischer

Die moderne Medizin ist, wie unzählige andere Bereiche unseres Lebens, ohne technische Hilfsmittel nicht mehr denkbar. Durch deren Nutzung entsteht eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine, wie sie uns in dem Bild von František Gross auf merkwürdige Weise vorgeführt wird.

Eine «Bildanamnese»

Im Zentrum des Bildes mit dem Titel “Transplantage” (dt. Transplantation) finden wir eine weisse Fläche, welche dem Werk als einziges Element eine räumliche Dimension verleiht. Der Titel des Werkes lässt vermuten, dass es sich hierbei um einen Operationstisch handeln könnte. Nur wenige Objekte liegen darauf. Im Vergleich zur Umgebung wirkt der Tisch aufgeräumt. Die weisse Farbe hebt ihn hervor und erzeugt die Vorstellung von Sauberkeit bis hin zu Sterilität. Was genau auf dem Tisch liegt, lässt sich nur schwer erkennen. Sehen wir da ein Auge? Einen Körper? Oder nur Teile davon?

Um den Tisch herum gesellen sich verschiedene Figuren, die miteinander verbunden zu sein scheinen. Es entsteht der Eindruck einer Kette von Elementen, ähnlich einem Förderband. An einigen Stellen berühren die einzelnen Elemente den weissen Tisch, vermutlich ragen auch Teile dieser mechanisch wirkenden Figuren über den Tisch. Vieles lässt sich nur erahnen, da Flächen oder Schatten, die den Figuren eine Dreidimensionalität verleihen würden, vermisst werden. Die Elemente wirken glatt und körperlos. Ob es sich bei diesen also tatsächlich um Figuren handelt, kann in Frage gestellt werden. Nichtsdestotrotz - und erstaunlicherweise mit einem Minimum an Information - wird die Idee einer operierenden Maschine erzeugt.

Die Maschine wirkt komplex und ihre Funktionen unergründlich. Über die zum Zeitpunkt ablaufenden Vorgänge und deren Ziel kann nur gerätselt werden. Vielleicht wird gerade ein Spenderorgan entnommen, vielleicht erhält jemand das rettende Organ... Das klassische Inventar eines Operationssaales mit Beatmungsmaschine, Monitoren und chirurgischen Instrumenten kann im Bild nicht eindeutig identifiziert werden. Auf der linken Seite könnte die Narkose und Beatmung durchgeführt werden, eine zum Tisch führende Linie symbolisiert vielleicht einen Beatmungs- oder Infusionsschlauch. Hier und dort erkennt man Knöpfe und Schalter, Räder und Scharniere. Doch der Betrachter bleibt mit dem Eindruck zurück, dass diese Darstellung wenig mit seiner Vorstellung von einem Operationssaal gemeinsam hat.

Die Transplantation wird hier als ein komplexer und undurchsichtiger Prozess dargestellt, welcher von einer selbstständig agierenden Maschine durchgeführt wird.

Im Kontext der Geschichte

Das im Jahr 1971 entstandene Kunstwerk greift die Fortschritte der Transplantationsmedizin im 20. Jahrhundert auf. Vor fast 70 Jahren gelang die erste erfolgreiche Nierentransplantation an einem Menschen. Obwohl schon vorher Transplantationen der Haut durchgeführt wurden, läutete diese Entwicklung eine neue Ära der Medizin ein, da sie die Lebenserwartung von Patient:innen mit terminaler Nierenschwäche um Jahrzehnte verlängern konnte.

Selbstverständlich war dieser Meilenstein zu seiner Zeit revolutionär. Er war jedoch nur einer von vielen parallel ablaufenden Entwicklungen im sogenannten goldenen Zeitalter der Medizin (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts). Unter diesem Gesichtspunkt muss es für den Künstler naheliegend gewesen sein, dass bald weitere Entwicklungen folgen werden. Der Künstler hat diese Fortschritte in seinem Werk aufgegriffen und sie in seiner Version der Zukunft weitergedacht. Er präsentiert dem Betrachter ein futuristisches Szenario, in dem operierende Maschinen die Arbeit von Chirurg:innen übernommen haben.

Autonome Operationsmaschinen

Tatsächlich ist es so, dass Roboter die Fähigkeiten von erfahrenen Chirurg:innen in bestimmten Bereichen übertreffen. Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung von Robotern in der minimalinvasiven Chirurgie. Bei derartigen Eingriffen erreichen sie eine höhere Präzision als Menschen und zeigen keine Ermüdungserscheinungen. Wir können uns nun fragen: Wozu braucht es Chirurg:innen, wenn doch eine Maschine den gleichen Eingriff sicherer und effizienter durchführen könnte? Das sind hochrelevante Fragen für das Selbstverständnis von chirurgisch tätigen Mediziner:innen.

Roboter gehören schon seit längerem zum Alltag im Operationssaal. Der heutige Entwicklungsstand der Technik ist jedoch noch weit davon entfernt, autonom durchgeführte Eingriffe zu ermöglichen. Ein Grund dafür ist, dass es bis heute nicht gelungen ist, die einzigartige Kombination aus Geschicklichkeit, Kraft und Feinmotorik der menschlichen Hand zu imitieren. Und obwohl intelligente Systeme standardisierte Eingriffe durchführen könnten, fehlen ihnen die Fähigkeiten, um unvorhergesehene Probleme zu erkennen und zu lösen, was für die Sicherheit und den Erfolg eines Eingriffs entscheidend ist. Schlussendlich bleibt auch noch die ungelöste Frage der rechtlichen Haftung wenn es zu Fehlern kommt. Aus diesen Gründen ist es unwahrscheinlich, dass Roboter in absehbarer Zeit über die Rolle eines Assistenten hinaus kommen werden.

Zusammenarbeit statt Autonomie

František Gross möchte den Betrachtenden mit seinem Kunstwerk möglicherweise auch die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine aufzeigen. An verschiedenen Stellen der maschinenartigen Figuren lassen sich Gesichter oder menschliche Formen erkennen, so dass der Eindruck entsteht, dass hier Mensch und Maschine gleichzeitig am Werk sind.

Die Verwebung beider Entitäten könnte darauf hindeuten, dass sie zusammenarbeiten. Eine solche Kollaboration zwischen Mensch und Maschine war für viele Erfolge in der Medizin verantwortlich. Beispiele dafür sind der Hochpräzisionsroboter DaVinci, welcher den Chirurg:innen eine feinere Steuerung der Instrumente ermöglicht oder das Narkosebeatmungsgerät, über welches sich die Beatmung von intubierten Patient:innen programmieren lässt.

Einerseits sind Maschinen auf unsere Programmierung, Wartung und Reparatur angewiesen, um zu funktionieren. Andererseits sind wir auf die Unterstützung von Maschinen angewiesen, da diese viele Aufgaben präziser oder schneller erledigen können. Es braucht also beide Seiten, denn weder Mensch noch Maschine agieren unabhängig voneinander. Insgesamt hängt der Erfolg eines Eingriffes viel weniger nur vom Menschen oder nur von der Maschine ab, als von der effektiven Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Es stellt sich dann nicht die Frage, ob durch die Technik die Zukunft der Chirurg:innen bedroht wird, sondern viel mehr, wie diese Synergien zwischen Mensch und Maschine optimal genutzt und ausgebaut werden können, um auch in Zukunft Fortschritte zu erzielen.

Der Mensch als Maschine

Der Künstler könnte in diesem Werk möglicherweise nicht nur die Koexistenz von Mensch und Maschine symbolisch dargestellt haben, sondern auch das vorherrschende mechanistische Weltbild. Laut diesem Ansatz wird der Mensch als komplexe Maschine betrachtet, in der sämtliche Vorgänge als Resultat eines Ursache-Wirkung-Prinzips zu erklären sind.

Anfangs weckten die Erfolge der Transplantationsmedizin Hoffnungen auf Unsterblichkeit. Die Idee war, defekte oder alte Teile der menschlichen Maschine durch neue zu ersetzen und somit die Funktionalität von Organen oder Organsystemen wiederherzustellen. Jedoch zeigte sich bald, dass unsere wissenschaftlichen Modelle zum Verständnis der Natur oft zu simpel und zu kurz gedacht sind.

Denn in vielen Fällen werden transplantierte Organe vom Immunsystem der Empfänger:innen als fremd erkannt und abgestossen. Um das Problem der Abstossungsreaktion zu lösen, müssen Empfänger:innen dauerhaft Medikamente einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken. Diese haben jedoch nicht selten Nebenwirkungen, wie zum Beispiel eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen. Offenbar braucht es für eine erfolgreiche Organspende also mehr als nur die Verpflanzung einer anatomischen Struktur.

Das mechanistische Weltbild scheint nun ausgedient zu haben. Vielleicht ist es an der Zeit, ein neues, systemischeres Weltbild zu verwenden?

Abschliessende Gedanken

Die Aspekte im Bild von František Gross eröffnen wichtige Fragen der Koexistenz von Mensch und Maschine und sind damit hochrelevant für unsere Zeit. Die Technologisierung hat auch vor der Medizin nicht halt gemacht. Maschinen und Applikationen auf Basis von künstlicher Intelligenz übernehmen immer mehr Arbeiten, die früher von medizinischem Personal erledigt wurden. Es ist schwierig, die zukünftige Entwicklung der Technologisierung vorherzusagen, da Prognosen, die auf einem reduktionistischen Weltbild beruhen, unzuverlässig sind.

Die Medizin hat seit 1971 riesige Fortschritte gemacht. Der richtige Umgang mit Technik in der Medizin wird uns sicher auch noch über weitere 50 Jahre beschäftigen.

 

Anmerkung: Arbeitest Du in einem bestimmten Berufsfeld oder Branche und interessierst Dich für Kunst? Suche Dir ein passendes Kunstwerk aus und lass uns wissen, was das Werk mit deinem Beruf zu tun hat. Was für Gedanken löst es durch die Brille deiner Profession in Dir aus? Kontaktiere uns über unsere Mail hello@art24.world. Wir freuen uns, von Dir zu hören.

 

Bildnachweis: 

Bild: Transplantage, František Gross, 1971, Lithographie, Foto: art24.

Glossar:

Mechanistisches Weltbild: Eine philosophische Position, die besagt, dass nur Materie existiert und damit der menschliche Geist/Wille nicht erklärbar ist. «Bezeichnung für kausal- und wirkursächliche Erklärung von Gegebenheiten und Geschehnissen durch physikalisch-chemische und materialistisch-energetische Gesetzmäßigkeiten über letzte, in sich unveränderliche Teilchen.» (Metzler Lexikon Philosophie)

Reduktionistisch: Eine philosophische oder naturwissenschaftliche Lehre, nach der ein System durch seine Einzelbestandteile bestimmt wird. Durch diese reduzierte Betrachtung der Einzelelemente werden die Verflechtungen des gesamten Systems nicht beachtet.