art24 goes Art Basel
Jährlich findet die internationale Kunstmesse Art Basel statt, die als Ausstellungsschauplatz und Verkaufsplattform für internationale, einflussreiche, innovative und renommierte Galerien dient. Am 17. Juni 2022, besuchte das Kunstteam von art24 die Messe, um vor Ort einen Einblick in den diesjährig herrschenden Kunstmarkt zu bekommen und die Pionier:innen der Kunstwelt zu entdecken. Neben den Galerien werden kuratierte Präsentationen ausgewählter Künstler:innen der an der Art Basel vertretenen Galerien im Rahmen der «Unlimited»-Ausstellung gezeigt. 70 zeitgenössische Künstler:innen des 20./21. Jahrhunderts stellen hier ihre Kunst aus: Eine überwältigende Masse an eindrücklichen, erzählenden Inszenierungen, bestehend aus Skulpturen, Gemälden, Installationen, Video-Projektionen etc.
Auch dieses Jahr beeindruckten uns die einzelnen Kunstwerke, welche häufig gesellschafts-, historisch- und politisch-kritische und/oder feministische Themen aufgriffen und einen wichtigen und notwendigen Dialog anregten. Sei es Yee I-Lanns (*1971) Installation «Tikar/Meja» (Galerie Silverlens) von 60 Bajau Sama DiLaut-Teppichen, die die Bewältigung des Kolonialismus und Patriarchats symbolisieren, die überdimensionale Bronzefigur einer schwarzen Frau mit dem Titel «Moments Contained» von Thomas J. Price (*1981) (Galerie Hauser & Wirth), die den Fokus auf die «Unterrepräsentierten» legt oder Francis Alÿs (*1959) Werkserie «Border Barrier Typology» (2019-2021) (Galerie Peter Kilchmann), welche Bilder von Zäunen der Ländergrenzen wie Frankreich und England, aber auch der Ukraine und Russland oder Israel und Syrien aufzeigen, und so, möglicherweise auch unbedacht, durch seine Aktualität besticht.
Es ist eine Masse an diskussionsanregender Kunst, die auf die Besucher:innen niederschlägt. Daher scheint es unmöglich, auf jedes Kunstwerk der Unlimited-Ausstellung einzeln einzugehen.
Allerdings soll im Folgenden Licht auf besondere Werke geworfen werden. Während des Besuches stellten wir schnell fest, dass die Kunstwerke nicht nur für sich standen, sondern die Besucher:innen auch selbst Teil des Kunstwerkes werden konnten. Und zwar dadurch, dass sie sich farblich perfekt zu den ausgestellten Werken abstimmten und sich so in den Showroom integrierten. Die farbliche Zuordnung erfolgte ganz natürlich, ohne dass sie von uns inszeniert wurde. Keine:r der Besucher:innen wurde von uns angesprochen oder posierten bewusst für das Foto. Manche Besucher:innen erschienen gleich mehrmals in unserem Fokus, da sie farblich unabsichtlich zu vielen präsentierten Kunstwerken passten.
Auf diese nun mehr fast „interaktiven“ Kunstwerke wollen wir im Folgenden näher eingehen:
Gleich am Eingang der Unlimited-Ausstellung auf der rechten Seite erreicht man eine Bilderwand «Wigs II» (Galerie Hauser & Wirth, Booth U69) der Künstlerin Lorna Simpson (*1960). Auf mehr als 20 Bildern zeigen sich unterschiedlichste Frisuren, welche von hinten und auf einem schlichten Hintergrund fotografiert sind: gelockte, geflochtene, glatte, gewellte, lange, kurze, dunkle und blonde Haarperücken reihen sich Bild an Bild aneinander. Sie werden von kleinen Texten begleitet, die unterhalten, von Drag, aber auch von Sklaverei und Gewalt handeln. Die Besucher:innen sind eingeladen, Geschichten hinten den verschiedenen Haarstilen zu erzählen. In ihren Werken thematisiert Lorna Simpson oft die Geschichte von afroamerikanischen Haarfrisuren und den gesellschaftlichen Schönheitsnormen. In der Werkserie «Wigs» untersucht sie die soziale und politische Bedeutung des Haares: von der Stigmatisierung der schwarzen Haarfrisuren hin zur Kultivierung von natürlichem Haar als Empowerment von POC. Ein wichtig geführter Dialog, den wir hier glücklicherweise aufgrund der jungen Besucherin mit voluminös gelocktem Haar vor dem Hintergrund der Frisurenwand anführen können (Bild 1). Beinah verschwindet ihr Kopf und verschmilzt mit den aufgehängten Perückenbildern.
Eine Booth weiter wird man in den Showroom der Galerie Thomas Schulte (U68) geführt, wo die kinetische Installation «Bee's Planetary Map» von Rebecca Horn (*1944) inszeniert ist. Das im Jahr 1998 geschaffene Werk besteht aus herunterhängenden, runden Strohkörben, die leere Bienenstöcke darstellen. Das laute Summen eines Bienenschwarms ist aus Lautsprechern zu hören. Das warme Licht, welches aus den Bienenkörben strahlt, wird von den runden Spiegeln am Boden an die Wände reflektiert. Von der Decke fallen Pflastersteine auf die Spiegel und zerschmettern diese. Das Werk der deutschen Künstlerin entstand während des herrschenden Balkankrieges und soll Themen wie Entwurzelung und Dislokation aufgreifen. Motive wie Freiheits-, Zugehörigkeitsangst sowie die der Wunsch nach Schutz und Sicherheit stellen wesentliche Intentionen der Künstlerin dar. Auch wenn die Bienenstöcke leer sind und nur das Geräusch der summenden Bienen zu hören ist, belebt die Dame mit ihrem gelbfarbigen schwarz gepunkteten Kleid inmitten der «Bienenplanetenkarte» die Szene (Bild 2). Auch wenn das Kleid nicht sinnbildlich die gelb-schwarzen Streifen einer Biene wiedergibt, so wirken die schwarzen Punkte auf dem Kleid wie der fehlende herumschwirrende Bienenschwarm auf der Sommerwiese.
Schräg dieser Kunstinstallation gegenüber fällt der Blick auf einen Raum voller monochromer Bilder. 40 unterschiedlich dumpf-farbige, pastellige, dunkeltönige und glänzende Farbflächen reihen sich in diesem Showroom aneinander. Das Werk «R R Variations» des niederländischen Künstlers Jan Dibbets (*1941) der Galerie Konrad Fischer, Peter Freeman (Booth U62) ist an die Gemälde seines Künstlerfreundes Robert Ryman (1930-2019) angelehnt und soll diesen mittlerweile verstorbenen Künstler ehren. Das Farbkonzept stellt dabei einen wunderbaren Schauplatz dar. Hier konnte sich vermutlich jede:r Besucher:in farblich wiederfinden. Zwei besondere Beispiele sind unten aufgeführt (Bild 3). Dabei ist ein Augenmerk auf die Dame in floraler Kleidung zu legen, die gleich mehrmals in unserem Blickfeld auftauchte.
Direkt um die Ecke findet sich das Kunstwerk Food for Thought «World Map» der saudi-arabischen Künstlerin Maha Mullah (*1959), vertreten in der Galerie Krinzinger (Booth U58), wieder. Dieses besteht aus zahlreichen farblichen Videokassetten, die zu einer bildlichen Weltkarte zusammengesetzt sind. In Rosa ist dabei das grösste Land der Welt, Russland, zu erkennen. Neben der grossen rosafarbigen Fläche nimmt die blaue Farbe des umgebenden Meeres einen weiteren dominanten farbigen Teil des Werkes ein. Wunderbarerweise trat bei der Betrachtung des Werkes gleichzeitig eine junge Frau in ebenso rosa-blauem Gewand vor uns (Bild 4).
Den Gang weiter hinunter findet sich die Kammer-Installation des italienischen Künstlers Michelangelo Pistoletto (*1933) in der Booth U18 der Galerie Continua. Das Werk «Porte Uffizi» wurde im Jahr 1995 konzipiert und besteht aus einer kammerartigen architektonischen Struktur. Jede «Kammer», die durch schmale abgrenzende Holzbalken angedeutet ist, ist einer kulturellen Kategorie gewidmet. Über den «Türen», welche als eine Art Portal in die einzelnen offenen Kammern führen, stehen die verschiedenen Kategorien wie «Rights», «Politics», «Communication», «Sport» oder «Architecture». In jedem dieser Räume ist ein Werk des Künstlers installiert, die das Thema veranschaulichen. Die Menschheit soll so zum Nachdenken angeregt werden. Sie soll sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst gemacht werden und sie hinsichtlich Themen wie der Umwelt oder Gemeinschaft ansprechen. Auch hier bot die Installation einige Räume, die farblich zu den gekleideten Besucher:innen passten. In kurzer Zeit ordneten sich die Besucher:innen unabsichtlich ihren passenden Farbräumen wie Rot, Pink, Blau und Grün zu und das Foto war schnell geschossen (Bild 5).
Dem gegenüber füllte eine raumgreifende, monumentale Skulptur aus Aluminiumblech und partiellen Elementen, die mit Autofarbe lackiert sind, die Booth U53 der Galerie White Cube. Das dominant-grautönige Werk «Dimension» von Liu Wei (*1972) wird herrlich vom grauen Kleid der Besucherin komplettiert (Bild 6):
Ein paar Meter weiter gelangte man zum Schaustück der deutschen Künstlerin Raphaela Vogel (*1988): «The (Missed) Education of Miss Vogel» (Galerie BQ Booth U46). Dunkle Schriftzüge und Malereien zieren die aufgehängten Tierhäute. Die Bilder und Texte sollen die von der Künstlerin erlernten und erwünschten Wissensbestände repräsentieren. Ein Stück eines gelbgefärbten Hautstückes mit dunkelfarbigem Schriftmuster liess sich in ähnlicher Weise zufällig im Moment auf dem Kleid der jungen Besucherin finden (Bild 7).
Im Gang weiter hinunter hing das Gemälde «Isla (elegía)» des kubanischen Künstlers Yoan Capote (*1977), vertreten in der Galerie Contunia (Booth U43). Das aus Tausenden von Fischhaken zusammengesetzte Bild, inspiriert vom Gemälde «Mönch am Meer», gemalt von Caspar David Friedrich, wirkt bedrohlich, aber auch wunderschön zugleich. Wie eine hohe Barriere türmen sich die Wellen vor dem Betrachter auf. Das Werk steht symbolisch für den Schmerz, das Risiko sowie die Schreckenszenen auf dem Wasser, die viele Migrant:innen während ihrer Flucht über das Meer erfahren müssen. Die dumpfen Töne des gelb-grauen Himmels, der am Horizont aufhellt, und die dunkle Farbe des tiefen Meeres schattierten in ähnlicher Weise auf der Kleidung gleich mehrerer Besucherinnen (Bild 8).
Auf der Rückwand des Gemäldes von Yoan Capote war die raumfüllende Installation «Not Since Superman Died» des Künstlers Jim Shwas (*1952) (Galerie Gagosian, Booth U42) ausgestellt. Grosse Banner hängen von der Decke bis zum Boden herunter. Die Besucher:innen können um die Banner herumlaufen und so beide Bildseiten betrachten. Auf der Vorderseite ist Superman, die Heldenfigur, in verschiedenen Körperhaltungen in Schwarz-Weiss und im Comic-Stil nach Wayne Boring (*1905) gemalt. Weitere bildliche Komponenten sind von der Zeichnung «Evening (The Fall of a Day)» des Malers Wiliam Rimmer (*1816) inspiriert. Der Hintergrund sowie die Rückseite der Banner sind mit Parkelementen des Central Parks gestaltet. Das Werk stellt Superman, die sonst unverwundbare und unbesiegbare Heldenfigur, hier als einen Normalsterblichen dar, der Schmerz, Schwäche und das Sterben erlebt. Der Moment, als die Frau im bodenlangen, faltenreichen und stoffhaltigen weissen Kleid vor den zahlreichen Bannern, die in ebenso langen Stoffbahnen herunterhängen, stand, musste bildlich festgehalten werden (Bild 9). Ein Sonnenhut mit einem weiten dünnen Stoff ergänzt das luftige Outfit.
An der hintersten Ausstellungswand kommt man nur schwer am goldig-glänzenden meterhohen Werk «Winter is Coming» (Galerie Urs Meile, Booth U3) vorbei. Ein Glücksfall, dass sich just in diesem Moment eine junge Besucherin in gleichfarbigem Kleid in unsere Richtung drehte (Bild 10). Dies gibt uns nun die Möglichkeit, das besondere Kunstwerk im Rahmen dieses Blogbeitrages näher vorzustellen. Über einer Holzplatte trug die Künstlerin Ju Ting (*1983) mehr als 70 Acrylfarbschichten auf und hämmerte Löcher hinein, um die zahlreichen darunter liegenden buntfarbigen Schichten freizulegen. Sie liess damit ihren Frust über die Einschränkungen und den Verlust des Kontaktaustausches mit den Mitmenschen während der Covid-19-Pandemie freien Lauf. Die in Peking lebende Künstlerin nutzt die Formbarkeit der Acrylfarbe bei unterschiedlichen Temperaturen aus, spielt dabei mit der Wirkung von Oberfläche und Textur und schafft malerische-skulpturale Werke.
Dem strahlenden Werk gegenüber steht eine moderne Skulptur der französischen Künstlerin Anita Molinero (*1953), vertreten in der Galerie Christophe Gaillard (Booth U40). Das Werk «Vivasse» (2022) setzt sich aus grünfarbigen Polyethylen-Behälter zusammen, die wie Unkraut und beinah monsterartig in die Höhe klettern. Die Künstlerin verwendet Alltagsgegenstände aus Kunststoff, wie hier Abfalleimer, die sie verformt und zu Skulpturen verfremdet. Da uns die ältere schicke Dame in ihrer floralen Kleidung schon den gesamten Tag von Kunstwerk zu Kunstwerk begleitete, darf sie auch beim letzten vorgestellten Werk nicht fehlen: Die dunkle Farbe der Blätter und Pflanzenstängel auf ihrem Mantel treten aufgrund der dunkelgrünfarbigen Kunststoffskulptur im Hintergrund nun stärker hervor (Bild 11).
Dass Kunst und Mode sich näher sind als gedacht und sich bezüglich Motivik und Farbgebung gegenseitig befruchten, verblüffte die Ausstellung «Swiss Textile Collection» im Forum Würth Rorschach 2016/17.
Nach einem Tag des Bestaunens von Kunst und Besucher:innen, verliessen wir die Unlimited-Ausstellung, um uns einen Stock höher den Showrooms der Galerien zu widmen. Hier überwältigten uns ganz andere aufkommende Fragen, wie z. B. zum Präsentationskonzept der Kunstmesse Art Basel, insbesondere im Vergleich zur art24, der Online-Plattform für fairen Kunsthandel: Stehen wir eigentlich in Konkurrenz zur anerkannten internationalen Messe? Welche Vorteile hat eine Online-Plattform, die eine Kunstmesse nicht bieten kann?
Froh ein Teil der diesjährigen Besucherschaft gewesen zu sein, sehen wir der Art Basel im nächsten Jahr mit Freude entgegen.