Der Widder – Symbol für (Schöpfungs-)Kraft und Resilienz (Teil 1)
Teil 1: Was unterscheidet das Tier vom Menschen…?
Das Schaf, seit dem Neolithikum (8’500–4'500 v. Chr.) in verschiedenen Gebieten der Welt aus verschiedenen Wildformen gezüchtet, ist neben der Ziege und dem Hund das älteste, bekannte Haustier. In Vorderasien wird die Domestizierung gar bereits in der altbabylonischen Zeit bezeugt (19.–16. Jh. v. Chr.). Zusätzlich zu den offensichtlichen Vorteilen von domestizierten Tieren, wie schnelles Fleisch, Milch, Dung, Wolle und Fell, wurde das Schaf aufgrund seiner nährhaften Kostbarkeit häufig auch für religiöse Kontexte in menschlicher Nähe gehalten. Für das heutige «europäisch-westliche» Menschenbild ist die Unterscheidung von Mensch und Tier ein zentraler Aspekt, welcher allerdings einseitig durch den Menschen definiert wird. Somit ist das menschliche Weltbild von dieser Unterscheidung geprägt. Was bedeutet dies für die Tiere?
Den Tieren werden gewisse Eigenschaften abgesprochen, die der Mensch umgekehrt für sich selbst akklamiert, zum Beispiel die Eigenschaften, Werkzeuge einzusetzen, oder Kunst zu erzeugen. Ersteres wurde bereits früh wissenschaftlich widerlegt, denn auch das Tier benutzt Werkzeuge, um sich das Leben zu erleichtern. Und ist denn ein Vogelnest keine Architektur? Doch René Descartes (1596–1650) Worte haften auch heute noch am Tier, als er bestimmte, dass diese keine individuellen Entscheidungen treffen können und deren «Verhalten nur durch genetische Programmierung bedingt ist» (Roters 2022, 10).
Das Tier war für Descartes also etwas maschinenartiges. Jaques Derrida (1930–2004) widersetzte sich in seinem verschriftlichten Vortrag «Das Tier, das ich also bin» (Franz. «L'Animal que donc je suis») und definierte für alle Lebenden ein gemeinsames Merkmal, nämlich die Fähigkeit, sich selbst zu sein, in der Lage zu sein durch Bewegung und Reize die Welt wahrzunehmen und sich selbst durch diese Bedingungen eine Autobiografie zuzuschreiben – also sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und das Leben zu entwerfen. Derrida erkennt im Leben selbst die Gemeinsamkeit von Mensch und Tier (vivant animal) und damit ihre Verbundenheit, die durch menschliche Konstrukte und Vereinfachungen, wie der von Descartes, versucht wird zu trennen (vgl. Roters 2022, 10). Diese auferlegten Grenzen zwischen Mensch und Tier werden bei Derrida also dekonstruiert. Wie Roters bemerkt, manifestiert sich in dieser Kategorisierung von «Mensch» und allen anderen, den «Nicht-Menschen», der Anthropozentrismus, ein Machtverhältnis, das den Tieren aufgezwungen wird.
Wie so vieles, was den Menschen umgibt und prägt, war auch das Tier Inspirationsquelle, Motiv, Gegenstand und sogar Material (man denke beispielsweise an das Pergament) menschlicher Ausdrucksformen. Oft sind oder waren sie sogar durch ihre tatsächliche lebende oder tote Körperlichkeit als aktive, bzw. passive Performer:innen und Akteur:innen darin vertreten. (Die ethischen Probleme, lebende Tiere in der Kunst einzusetzen, werden in diesem Diskurs ausgelassen, doch legt dies auf jeden Fall die Strukturen offen, in der Tiere leben (müssen)). Eine durch diese Perspektive gesehen vertretbare Art, Tiere in der Kunst darzustellen, ist die einer künstlerischen Reproduktion oder Repräsentation. Sei dies in Form von Bildern, Spuren ihrer einstigen Anwesenheit, wie Federn, Knochen, Fäkalien oder Fell, oder als Skulpturen. Letztere kommen der Körperlichkeit der Tiere durch ihre Lebensgrösse und Gestalt sehr nahe. Was sagt nun das männliche Schaf in der Kunst über uns Menschen aus, wie wurde es in den Anfängen des menschlichen Ausdrucks abgebildet und wie heute?
Die menschliche Auseinandersetzung mit dem Widder
Die frühe Beschäftigung mit dem Tier bezeugen bereits Höhlenmalereien – eingravierte, kleinformatige Tier- und Phantasiewesen, etwa wie jene in Lascaux, welche vermutlich 30'000 Jahre v. Chr. entstanden sind oder das noch älter geschätzte Abbild (40'000 v. Chr.) eines grossen Huftiers in der Höhle von Lubang Jeriji Saléh auf Borneo (vgl. Roters 2022, 27–28).
Die älteste Widderdarstellungen in Form von Tonreliefs mit echten Hörnern sind vermutlich die aus Çatalhöyük in der heutigen Türkei, einem Siedlungsplatz mit Kultanlage, die vorwiegend einer «Muttergottheit» geweiht war (7’000–6'000 v. Chr.). Vermutet wird, dass die Widderköpfe die männliche Fruchtbarkeit verkörpern und zu Ritualhandlungen gehörten, in deren Vordergrund die Aufrechterhaltung dieser «kosmischen Ordnung» stand. Ebenso möglich ist aber auch die Symbolisierung als Nahrungslieferant (vgl. Wunn 1999). Ebenfalls bemerkenswert sind die steinerne Widderfiguren in Uruk (Irak), heute Warka. So wurden dort kleinere, aber auch grössere Widderköpfe aus Stein gefunden, die Symbolik ist hier allerdings nicht restlos geklärt.
In Alteuropa stammt das älteste Abbild eines Widders aus endneolithischer Zeit. Die Figur, die mehrheitlich als «Tonwidder von Jordansmühl» (Schlesien, Polen) aus der «donauländischen Kultur» bezeichnet wird, weist auffällige nordische Verzierungen auf, welche auf eine Berührungszone verschiedener Kulturen hinweisen. Die Tonfigur stellt wohl ein Götterbild dar und war mit grosser Wahrscheinlichkeit Teil eines Altars oder einer Kultnische (vgl. Maringer 1980, 130–131).
In Endneolithischer und kupferzeitlicher Kultur wurden auch im mittleren Balkangebiet viele «widdergestaltige Kultgefäße mit einer Öffnung am Rücken» entdeckt, die wohl als Lampen dienten, welche entsprechend das Sonnenlicht symbolisierten (Maringer 1980, 132).
Der Bezug des Widders zur Sonne wird in verschiedenen Kulturen aufgrund der Form seines Geweihs hergestellt. Kleine Tonfiguren in Form von Widdern wurde oft auch als Grabbeilagen mitgegeben, so zum Beispiel in der Gumelnitza-Kultur in Rumänien. Auch in der Schweizer Pfahlbausiedlung Burgäschi-West fanden sich Tonfiguren, die Widder darstellen, die als Kinderspielzeuge oder Weihegaben an eine Gottheit interpretiert wurden. In Ägypten wurde der Widder ebenfalls mit der Fruchtbarkeit verbunden, so zum Beispiel der Schöpfergott Chnum (vgl. Maringer 1980, 132). Dieser erschuf Götter, Menschen, Tiere und Pflanzen und wurde als menschliche Gestalt mit einem Widderkopf dargestellt. Chnum verdankte seine Kraft der «Potenz des Widders». Das Wort selbst bedeutet «männliches Schaf» (vgl. Maringer 1980, 132). Auch Amun war als Gott der Fruchtbarkeit in der ägyptischen Kultur mit einem Widderkopf dargestellt, im Gegensatz zu Chnum wurde Amun direkt mit einem Sonnenkult verbunden. So wurde er dann auch in der Bronzezeit Ägyptens zum Hauptgott (vgl. Maringer 1980, 133). I
In der Bronzezeit wurden in ganz Europa eigenartige U-förmige Objekte gefunden, die aus Ton oder Stein waren. Die Enden dieser sogenannten «Feuerböcke» wurden teilweise mit Widderköpfen verziert – ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung des Feuers, das wiederum in Verbindung zur Sonne steht, dem «himmlischen Feuerherd» (Maringer 1980, 134). Auch bei den nordischen Gottheiten wurde ein Gott mit Hörnern und in Menschengestalt dargestellt, dabei kann es sich entweder um den Gewittergott Thor oder um Heimdallr, Gott des Lichtes, der dadurch mit der Sonne verknüpft wird, handeln (vgl. Maringer 1980, 134).
In der Eisenzeit verehrten die Kelten den Widder, bei denen er ebenfalls ein Symbol von Kraft und Fruchtbarkeit war. Dieser Verehrung lag «die Angriffslust und die Zeugungskraft des Widders» zugrunde (Maringer 1980, 135). Widderfiguren aus Ton oder Stein wurden mit der Zeit immer mehr verziert, so dass ihre ursprüngliche Funktion immer opaker wurde. Konzentrische Kreise als Gestaltungselemente stellen aber weiterhin einen Sonnenbezug her. Solche Kreise wurden in der keltischen Kultur auch als apotropäisches Mittel verwendet. Diese beschützende Macht erklärt auch die Widderfiguren als Grabbeilagen zum Schutz der Verstorbenen. Mit dem Einfluss der römischen und hellenistischen Kultur, wurde der Widder nicht verdrängt; es fand gar eine Integration dieser mit den römischen Göttern statt. Dies bezeugt etwa ein Mithras-Heiligtum in Königshofen bei Strassburg, so wurde dort ein Stein mit Widderkopf neben einem Attis-Altar gefunden (vgl. Maringer 1980, 135).
Wir haben uns nun also auf die Spuren des Tieres in der Kunst und Kultur des Menschen gemacht. Doch weshalb sucht der Mensch nach anthropologischen Eigenschaften in den Tieren, wenn er sich in moderner Zeit von diesem zu unterscheiden versucht? Willst du mehr über die Bedeutung der Tierfiguren erfahren, dann sei gespannt auf den zweiten Teil.
Glossar Teil 1:
Vivant animal: Begriff des Philosophen Derrida. Damit meint er ein Lebewesen (Lebende, Tiere), das sich selbst eine Autobiografie zuschreiben kann, sich selbst also beeinflussen kann.
Anthropozentrismus: Von lat. «ánthrōpos» für «Mensch und «centrum» für «Mittelpunkt». Dabei handelt es sich um ein System, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, wodurch dieser das Mass aller Dinge ist. Dadurch wird die Wichtigkeit und Sichtweise anderer Lebewesen und der Natur vernachlässigt, diese erhalten ihren «Wert» nur in Bezug zum Menschen.
Feuerböcke: Gestell, das in einer Feuerstelle auf das Feuerholz gestellt wird. Durch diese Erhöhung wird die Luftzufuhr verbessert, wodurch das Holz besser und heisser verbrennt. Archäologische Funde ähneln diesen modernen Feuerböcken, allerdings ist nicht abschliessend geklärt, ob ihre Funktion identisch ist, dennoch werden sie so genannt.
Mithras: Eine römische Gottheit, welche die Sonne personifiziert und im Mithraismus (Mysterienkult im Römischen Reich seit dem 1. Jh. n. Chr.) verehrt wurde. Zeugnisse des Kultes gibt es aber schon seit dem 2. Jh. v. Chr., und zwar im nordindischen und iranischen Kulturkreis, wo Mithra ein Lichtgott ist.
Attis: Sohn der Flussnymphe Nana, der von einem Ziegenbock mit Bocksmilch aufgezogen wurde. Im römischen Totenkult wurde Attis auf Grabsteinen abgebildet, wo er Trauer symbolisierte.
Bildnachweis:
Bild 1_Bruchstück eines Widderkopfs, 2800-2700 v. Chr, Djemed-Nasr Periode, Stein-Kalkstein, gefunden in Warka (ehemals Uruk), Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum / Foto; Olaf M. Teßmer CC BY-NC-ND 4.0.
Bild 2_Jordansmühler Widder, ca. 4300 bis 3'900 v. Chr., Jordansmühler Kultur, Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass von Ernst Wahle.
Titelbild_The Met Museum. Terracotta Öllampe, 1. Jh. v. Christus - 1. Jh. n. Christus.