Der Widder – Symbol für (Schöpfungs-)Kraft und Resilienz (Teil 3)

10.10.2022
Yvonne Roos

Tiere als Thema in Kunst und Kultur existieren seit langer Zeit. So wurde auch das männliche Schaf, der Widder immer wieder abgebildet. Das Schaf gilt als eines der frühesten domestizierten Tiere. Entsprechend hatte es einen prägenden Einfluss auf den Menschen und sein Leben. Welche Bedeutung wurde dem männlichen Schaf also zugeschrieben? Welche menschlichen Wesenszüge transportieren wir in und durch Tiere in der Kunst – und weshalb? In diesem Blogbeitrag wird die Bedeutung des Widders in drei Teilen verfolgt.

Teil 3: Der Widder als Opfertier

Um die im zweiten Teil ausgeführte Thematik des Opfertieres weiterzuspinnen, ist es interessant zu beobachten, dass Tiere auch als «Objekte» für das menschliche Spektakel benutzt wurden und noch werden, beispielsweise im Theater. Auch hier sind Tiere lebend, oder, ethisch besser vertretbar, symbolisch oder skulptural auf der Bühne verkörpert. Durch dieses Inszenieren von Tieren sind Parallelen zum eben erwähnten Ritual- oder Opfertier zu erkennen, denn so spielte auch dort ihre symbolische Bedeutung für «rituelle Performances und Feste» eine wichtige Rolle. Das Opfertier stellte sich dabei, ob freiwillig oder nicht, in den Dienst zum Wohle der Gemeinschaft. Könnte also argumentiert werden, dass der Einsatz von Tieren für menschliche Bedürfnisse bis heute in Form von Theater und Kunst weiterlebt? Ein Paradebeispiel ist dabei Joseph Beuys Kunstaktion «Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt» von 1965. Und in noch extremerer Form zeigte dies der Wiener Künstler Hermann Nitsch, der Tiere als Teil seiner Kunst tatsächlich schlachtete, so auch Schafe. Er erregte auf schockierende Art und Weise Aufsehen, in dem er den Akt des Tötens konkret vorführte in einer Gesellschaft, die sich von der Schlachtung als Teil des Konsums von Tieren distanziert hatte, welche in Schlachthäusern entfernt von der Öffentlichkeit stattfinden. Die Parallelen zeigen sich auch im Theaterbegriff selbst. Die «Tragödie» ist aus den griechischen Wörtern «Tragos», also Bock, und «Ode», was Gesang bedeutet, zusammengesetzt. Dies deutet auf ein männliches Tier hin, das während eines Schauspiels (Dionysosfest) und unter Gesang geopfert wurde (vgl. Roters 2022, 31). Bei diesen rituellen Umzügen waren Menschen auch mit Masken und Bocksfellen angezogen. Den Teilnehmenden wurde also etwas Visuelles geboten. Das Visuelle spielt gerade in der Identifikation mit dem Tier eine wichtige Rolle, wenn wir an die Philosophie Derridas zurückdenken. Sehen wir im Tier also immer uns selbst? Wie Derrida meinte «Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren, ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers […]» (1998, 77). Wir brauchen also die Auseinandersetzung mit dem Tod, um uns unseres Jetzt-Zustandes und der Zukunft bewusst zu werden und um uns zu entwickeln. Der Tod hängt dabei mit einer Trauer zusammen. Das Dasein wird durch die Trauer erfahrbar. Es handelt sich also um einen Versuch der Bemächtigung des Todes, diesem uns ansonsten unzugänglichen Zustand, gemäss Tasheva: «Tod um des Lebens willen, Tod als absolute Bejahung der Existenz» (2009, 293). Das selbstlose Opfer wird zum Tauschobjekt, um mit Göttern, Ahnen und Geistern in Berührung zu treten und ihre Gunst zu erhalten. Das Opfer wird also ausgeschlossen aus der Welt der Lebenden, um zugleich aber auch sakral zu werden. Der Mensch hat dabei die Hoffnung auf eine Gegenleistung (vgl. Tasheva 2009, 293). Durch das Opfer sollen andere Opfer verhindert werden. Gemeinsam wurde sich also durch die Sakralisierung Vertrauen und Zuversicht zugesprochen. Tote haben Zugang zu diesem sakralen Raum und werden in diesem kulturellen Zusammenhang selbst sakral. Der Tod bleibt allerdings trotz des Rituals, des Opfers, stumm und unerwidert. Die Unbezüglichkeit lebt einzig durch den Glauben fort. Diese Handlungen wurden also in sozialen, sich wiederholenden Praxen eingebunden und zu etwas Gemeinsamen (vgl. Tasheva 2009, 293) Haben wir bei art24 damit ein modernes, weniger dramatisches, weniger trauriges (Opfer-)Ritual inszenier? Kann dies als ein positives Ritual angesehen werden? Ein Ritual, das verbindet und das Leben durch die Handlung in Zeit und Raum feiert. Ein Opfer, das einen anderen Tauschwert als den Tod hat?

Der art24-Chartiy-Event und die Verwandlung der weissen Widder

Auf moderne und zeitgenössische Kunst, die sich mit Tieren beschäftigen, wurde bereits kurz eingegangen. Natürlich gibt es auch hier viele weitere, spannende Kunstwerke, die unterschiedliche Fragen und Formen der Ästhetik abdecken. Anlass dieser Auseinandersetzung mit dem Tier «Widder» war ein Charity-Event von art24. 

Dabei wurden 9 Widderskulpturen in einer spezifischen Räumlichkeit durch 9 Künstler:innen zum Objekt ihrer künstlerischen Reflexion. Die Tiere wurden Teil eines individuellen Gestaltungs- und Wandlungsprozesses des/der jeweiligen Kunstschaffende/n. Die unschuldig aussehenden, weiss grundierten Tiere und die Oberflächenbeschaffenheit ihres Fells bekamen ein neues Aussehen verliehen und wurden zugleich Teil einer «Live-Performance». Die Tierskulpturen wurden quasi in eine «rituelle Aufführungspraktik» eingebunden und zu einem Spektakel, durch das auf die Kunstplattform art24.world und die Kunstschaffenden aufmerksam gemacht werden sollte. Auf ähnliche Weise sehen wir dies heute noch im Theater und in einem verwandten Sinne auch in Zoos. 

Ähnliche Praktiken fanden im Römischen Reich statt, wo Tiere, unter anderem auch Schafe, für Show- und Repräsentationszwecken in einem öffentlichen Setting, in Käfigen, in Prozessionen, inszenierte Jagden und Spielen benutzt wurden. Sie waren also Jagd- und Anschauungsobjekte in diesen Ritualen, in denen häufig die anschliessende rituelle Tötung im Mittelpunkt des Geschehens stand. Wie bereits erfahren, ging es dabei um die Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod. Glücklicherweise wurden beim art24 Charity-Anlass nur dreidimensionale Kopien von Widdern verwendet und keine lebenden Tiere. Das Töten, die Trauer, die Angst vor dem Tod, die Stille des Todes, all dies entfällt damit. Das Gemeinsame und das Individuelle dieses Gestaltungs- und Anschauungsprozess stehen nebeneinander im Vordergrund, wie auch die Verwandlungserfahrung hin zu etwas Neuem und Positivem, aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die die Kunstschaffenden auf die Widder übertrugen. Ihre Gedanken werden damit an das Publikum übermittelt. Diese Merkmale weisen alle in eine Zukunft, die zwar durch die Vergangenheit mitbestimmt sind, die unterschiedlichen Ergebnisse eröffnen aber auch Optionen und Verhandlungsmöglichkeiten. 

Dies gesagt, versinnbildlicht der Widder heute Charaktereigenschaften, die nicht mehr zwingend an religiöse Glaubensdogmen gebunden sein müssen, die aber durch diese Vergangenheit geformt und beeinflusst wurden. Heute symbolisiert der Widder Kraft, Willensstärke, Kampfeslust, Optimismus, Resilienz und Resistenz, wodurch ihm auch eine «Agency» (Handlungsmacht) zugesprochen wird. Obwohl Tiere heute immer noch als Sache und oft als menschliches Eigentum gesehen werden und der Umgang mit ihnen dramatische Folgen angenommen hat, wird entsprechend auch viel über Tierrechte diskutiert, mit dem Ziel, diese für das Tierwohl neu auszulegen. Auch hier finden sich Parallelen zu art24. Denn auch die Grenzen von Kunst und Kultur werden im digitalen Zeitalter neu ausgelegt und diskutiert, neue und abweichende Formen der meinungsgebenden Instanzen und des Kunstmarktes werden erprobt und hinterfragt. Kunstschaffende sollen von art24 profitieren, sich vernetzen, gemeinsam etwas durch ihre individuellen Beiträge erschaffen und zugleich andere Menschen zum Nachdenken anregen, oder Freude bringen. Die Kunst erschafft Möglichkeiten. Kunst hat damit ähnliche Eigenschaften wie die historisch durch den Menschen zugewiesene Eigenschaften des Schafes, das sich in der Herde wohlfühlt, oder dem Widder, der in prähistorischen Kulturen als «potent» gilt, der etwas erzeugen kann und widerstandsfähig ist. So hofft auch art24, dass die 9 neu entstandenen Widder diese Zuschreibung versinnbildlichen. Dabei denken wir auch zurück an die ausgeführte schamanistische Bedeutung von Tieren. Auf der Suche nach einer Distinktion von anderen durch die Frage «wer bin ich, im Vergleich zu…», helfen die Kunstschaffenden, art24 zu formen. Das Tier agiert dabei als Ratgeber, als Möglichkeit der Grenzerfahrung und Identifikationsfigur. Alleine durch die Fellstruktur der Skulpturen, der an die Höhlenstrukturen erinnert, sei an diese Verschmelzung von Tier und Mensch erinnert, der die Kunstschaffenden vermutlich als «Schaman:innen» und damit als Übermittlerinnen am nächsten kamen. Damit transportieren sie diese Eigenschaften in die Welt hinaus. Und auch die im Widder angelegte Opferkomponente kann neu interpretiert werden. Denn die Erträge, durch die am Ende durchgeführte Ersteigerung der Widder wurden allesamt an Institutionen, welche von den Kunstschaffenden auserwählt wurden, gespendet. So kann also auch immer noch von einer Opfergabe gesprochen werden, wovon sich aber alle einen positiven Einfluss erhoffen, ohne Leid anzurichten. Der Widder ist also tatsächlich ein resilientes Tier, das für uns Menschen eine neue symbolische Bedeutung erlangt und damit Werte übermitteln kann. 

 

Weitere Literatur zum Nachschlagen:

Abenstein, Reiner (2016). Griechische Mythologie, 4. überarbeitete Ausgabe. Stuttgart: UTB GmbH.

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Borgards, Roland (2016). Tiere: Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler.

Brentjes, Burchard (1965). Protominoische Züge altkleinasiatischer Kultur, in: Klio, vol. 43–45, no. 1, 1965, S. 7–20. 

Deschler-Erb Sabine, Marti-Grädel Elisabeth, Jörg Schibler (2002). Bukranien in der jungsteinzeitlichen Siedlung Arbon-Bleiche 3 - Status, Kult oder Zauber? In: Archäologie Schweiz, Bd. 25, Heft 4.

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Logo-buch.de, LOGO – Ihr christlicher Buchversand, Christliches Lexikon, Lamm /Schaf, 09.08.22.

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Maringer, Johannes (1980). Der Widder in Kunst und Kult der vorgeschichtlichen Menschen. Anthropos, vol. 75 (1/2), S. 129–139. 

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Mönnig, Mona (2018). Das übersehene Tier: Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung, Bielefeld: transcript Verlag.

Nikolasch, Franz (1969). Zur Ikonographie Des Widders Von Gen 22. Vigiliae Christianae, 23(3), 197–223. 

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Praehistorische-archaeologie.de, Schamanismus, 09.08.22.

Roters, Annalena (2022). Mit Tieren denken: Zur Ästhetik von lebenden Tieren in zeitgenössischer Kunst. Berlin: Neofelis.

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Wunn, Ina (2001). Götter, Mütter, Ahnenkult: Religionsentwicklung in der Jungsteinzeit. (Diss.)

 

Bildnachweis:

Bild 5_Die Künstlerin Helen Eggenschwiler während der Arbeit an ihrem Widder «Growing, never to stop» für den art24-Charity Event «Art for Charity», dessen Ertrag an die Gassenarbeit Luzern ging. Foto: art24.world.

Bild 6_Der Widder der Künstlerin Helen Eggenschwiler «Growing, never to stop», dessen Ertrag an die Gassenarbeit Luzern ging. Foto: art24.world. 

Titelbild_Widder von Merges Visible. Kein Bock mehr, 2022.